Das Ehepaar Clara und Robert Schumann muss der junge Johannes Brahms geradezu verzaubert haben, als er ihnen am Klavier vorspielte. Schumann prophezeite ihm geradezu überschwänglich "Lorbeeren und Palmen" und hieß ihn "willkommen als starken Streiter". Das ist knapp 170 Jahre her. Wer es heute versteht, mit einer aktuellen Brahms-Einspielung eine Ahnung von den damaligen Glücksgefühlen der Schumanns zu vermitteln, der kann nicht nur Klavier spielen, sondern wirklich Musik machen. Peter Orth kann beides, was er mit seiner fesselnden Interpretation der frühen f-Moll-Sonate unter Beweis stellt.
Bildquelle: Challenge Records
Die CD-Empfehlung zum Anhören
Nein, seine Musik ist nicht immer geschmeidig. Schon beim jungen Brahms klingt manches widerborstig, kantig, aufbrausend – etwa der Beginn der Dritten Klaviersonate des gerade Zwanzigjährigen. Im nächsten Moment und im selben Werk konnte er in Welten von unsagbarer Poesie und Schönheit entführen, Welten, die schon seinen Entdecker und Mentor Robert Schumann verzauberten. "Am Clavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen", notierte er in seinem Tagebuch. "Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren … Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form."
Der Zauber, den Clara und Robert Schumann ganz offensichtlich verspürt haben, als sie diesen jungen Mann vor 170 Jahren an ihrem heimischen Flügel erlebten, er dürfte sich heute kaum wieder beschwören lassen – nicht jeder Moment ist für die Ewigkeit konservierbar. Das ist gut so in einer Zeit, die nahezu alles abrufbar vorhält. Aber die Noten von Brahms sind da, ihnen lässt sich Leben einhauchen, mit solcher Noblesse und Musikalität, mit solchem Tiefgang und Ernst, dass vielleicht sogar ein wenig von jenem Gefühl, das die Schumanns empfunden haben mögen, in unserer Gegenwart mitschwingt. Das ist dann große Interpretationskunst, eine Kunst, die nicht viele beherrschen. Der amerikanische, aber seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Pianist Peter Orth beherrscht sie.
Dieses Album wird lieben, wer …
… immer schon ein Brahms-Fan war oder unbedingt einer werden möchte.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… es hinreißend den ganzen Elan des jungen Brahms transportiert.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… es wirklich erahnen lässt, was Clara und Robert Schumann so unglaublich an dem zwanzigjährigen Brahms faszinierte.
Orth ist ein unauffälliger, aber wunderbarer Pianist, sicher zu wenig bekannt. Sein Brahms ist voller Esprit und Vitalität, nimmt sich aber genauso alle Ruhe und Zeit der Welt, wenn nötig und sinnvoll. Eine unglaubliche Klarheit und Strukturiertheit durchzieht seine neue Einspielung der frühen f-Moll-Sonate, zugleich pulsiert sie, versprüht mit fantastischem Gespür für klangliche Transparenz all den Charme und Elan, zu dem der junge Brahms mühelos fähig war. Hinreißend.
Das gilt auch für die nicht so oft gespielten Klavierstücke op. 76 und die Rhapsodien op. 79 des älteren, aber noch keineswegs alten Brahms. Sie besitzen noch nicht die melancholische Wehmut der unfassbar schönen späten Klavierstücke, die einfach Musik für die einsame Insel sind. Aber auch von diesen acht wundervollen Capriccios und Intermezzi möchte man nicht eines missen, ganz sicher nicht angesichts der Schönheit, die Peter Orth ihnen entlockt. "Lieben Sie Brahms?", fragte die französische Schriftstellerin Francoise Sagan mit ihrem 1960 erschienenen Roman. Ja, ich liebe Brahms, ganz besonders, wenn er so musiziert wird wie von Peter Orth.
Johannes Brahms:
Klaviersonate Nr. 3 f-Moll, op.5
Sechs Klavierstücke op. 76
Zwei Rhapsodien op. 79
Peter Orth (Klavier)
Label: Challenge Records
Sendung: "Piazza" am 11. Juli 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK