Wien, 5. Oktober 1897. Gustav Mahler geht in die Oper, was für den designierten Direktor der Wiener Hofoper erst Mal nichts Ungewöhnliches ist. Allerdings führt ihn sein Weg nicht ans Pult in "seinem" Orchestergraben, wo an jenem Oktoberabend Wagners "Lohengrin" gespielt wird. Nein, Mahler hat frei und gönnt sich einen Besuch bei der Konkurrenz: Im Theater an der Wien steht die deutsche Erstaufführung von Giacomo Puccinis "La Bohème" auf dem Spielplan. Der Komponist ist sogar anwesend.
Bildquelle: IMAGNO/Österr. Theatermuseum/Süddeutsche Zeitung Photo
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Puccini hätte "La Bohème" viel lieber an der Wiener Hofoper herausgebracht. Das prachtvolle Haus an der Ringstraße ist nun mal die renommiertere Adresse. Doch dieses Theater ist für diesen Italiener Sperrgebiet. Nicht einmal das kleinste Intermezzo von Puccini wird hier erklingen, solange Zerberus Mahler in der Hofoper das Zepter schwingt. Die nervöse Mimose Mahler hat eine Aversion gegen die Opern des sinnlichen Lebemanns Puccini.
Diese Musik wahrlich ein meisterhafter Flickenteppich und es wird riesig gebimbambaummelt.
Puccini kann betteln, freundliche Briefe schreiben, Agenten vorschicken, Mahler lässt sich nicht erweichen. Dabei hat Mahler noch in Hamburg "Le Villi" und "Manon Lescaut" geleitet. Das ist gerade mal vier Jahre her. Doch mittlerweile überwiegen in Puccinis Opern zu sehr die emotionalen und schaurigen Befindlichkeiten der Opernhelden. Zu diesem Zweck trägt Puccini die Klangfarben zu pastos auf.
Jetzt also "La Bohème". Mahler hat einen gemütlichen Platz in der Proszeniumsloge. Und kann nicht an sich halten. Erst zucken nur die Mundwinkel, dann wandelt sich die amüsierte Haltung in ein verhaltenes Gekicher. Und schließlich lacht Mahler laut und ironisch. Puccini ist über das kindische Verhalten des Kollegen gekränkt. "La Bohème" fällt nun wirklich nicht unter die Gattung "Komödie".
Aber der "Meister des Verismo" hat offenbar ein dickes Fell. Er macht dem Hofoperndirektor weiterhin den Hof. Und siehe da, Puccini lacht sich eins, sechs Jahre später kommt auch an der Hofoper "La Bohème" von Puccini auf die Bühne. Dirigiert – selbstverständlich nicht von Gustav Mahler!
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Sendung: "Allegro" am 5. Oktober 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK