Er hat die Interpretation Alter Musik neu zugänglich gemacht und die üblichen Hörgewohnheiten infrage gestellt. Der vor vier Jahren gestorbene Musiker und Dirigent Nikolaus Harnoncourt hat mit seinem Ensemble Concentus Musicus alte Traditionen gebrochen. Über seine musikalischen Erkenntnisse hat er auch zahlreiche Bücher verfasst. Jetzt hat seine Witwe Alice Harnoncourt, die Violinistin und Konzertmeisterin des Concentus Musicus, ein Buch mit nachgelassenen Texten ihres Ehemanns herausgegeben.
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"Durch die Kunst werden wir zu Erkenntnissen geführt, oft geradezu gestoßen: Sie ist der Spiegel, in den wir schauen müssen. Um dem zu entkommen, hat man eine bloß ästhetisierende, mache sagen 'kulinarische' Art, mit Kunst umzugehen, angenommen." So schreibt Nikolaus Harnoncourt in diesem Buch. Der Dirigent hat Zeit seines Lebens gegen diese rein kulinarische Kunstrezeption anmusiziert und angeschrieben. Er hat sich in Wort und Musik für eine Kunst eingesetzt, die uns berührt, ergreift, ja erschüttert.
Mozart braucht unsere Ehrungen nicht – wir brauchen ihn und seinen aufwühlenden Sturmwind.
Ein aufwühlender Sturmwind, das war auch Nikolaus Harnoncourt. Mit Vehemenz fegte er die überkommenen romantisierenden Spielweisen von Barockmusik und Werken der Klassik hinweg und legte ihre Aussagen offen. Anfangs belächelt, schließlich weltweit anerkannt. Harnoncourts Stimme, sein Engagement, ja sein Sturmwind fehlen heute. Aussagen und Appelle wie diese wären auch heute dringend nötig: "Im alten Erziehungssystem gehörte die Musik zu den wichtigsten Fächern. Weil man mit musikalischen Kenntnissen keine Autos konstruieren oder Formulare ausfüllen kann, meint man, sie sei nur eine 'schöne Kunst' und man könne sie aus der Erziehung entfernen."
Es gibt keine authentische Interpretation eines Werks von Bach oder Mozart.
Kenner Harnoncourts werden in dem Buch viel Bekanntes finden. Dennoch werden auch sie sicher angeregt von seinen Gedanken über die musikalische Interpretation, den Musikbetrieb, über die besonderen klanglichen Möglichkeiten eines Barockorchesters, über die Ästhetik Claudio Monteverdis oder die temperierte Stimmung in der abendländischen Musik seit 1600. Dazu kommen kunstphilosophische Texte und Erläuterungen zur sogenannten Historischen Aufführungspraxis und deren Grenzen. Denn auch wenn Harnoncourt dafür brannte, Musizier- und Sichtweisen von früher zu studieren und für uns heute nutzbar zu machen – apodiktisch war er dabei nicht: "Es gibt keine authentische Interpretation eines Werks von Bach oder Mozart, authentisch kann für einen Interpreten nur das eigene Werkverständnis sein."
So bietet das Buch eine schöne Gelegenheit zur Wiederbegegnung mit diesem funkensprühenden Streiter für das tiefere Verständnis von Musik – auch nach dessen Tod. Und für diejenigen, die Harnoncourt nicht mehr persönlich als Musiker oder Redner erleben durften, eine eindrucksvolle Einführung in sein Denken und Musizieren.
Nikolaus Harnoncourt:
Über Musik – Mozart und die Werkzeuge des Affen
Residenz Verlag, Salzburg & Wien
140 Seiten
Preis: 22,00 Euro
Sendung: "Allegro" am 1. April 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK