"Manchmal habe ich den Eindruck, er sitzt neben mir", sagt Rudolf Buchbinder und meint damit Ludwig van Beethoven. Zum Beethoven-Jubiläum 2020 hat er – bereits zum dritten Mal – ein Werk eingespielt, das er als sein "Lebens-Leitmotiv" bezeichnet: Beethovens Diabelli-Variationen. Buchbinder lässt es jedoch nicht bei dem legendären Opus bewenden: Er stellt es einerseits in den Kontext seiner Entstehung und denkt es andererseits bis in unsere Gegenwart weiter und beauftragte Komponisten aus aller Welt, sich das Thema noch einmal vorzunehmen. Heraus kam ein spannender Stilmix zum Beethoven-Jahr.
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Zugegeben: Frappierend genial wirkt dieser Walzer aus der Feder des Wiener Musikverlegers Anton Diabelli nicht. Genial war allerdings seine Marketing-Strategie, das Stück den prominentesten Tonsetzern, Virtuosen und Musikhonoratioren des Kaiserreichs zur Bearbeitung vorzulegen. Jeder sollte eine Variation des Themas liefern, zur Veröffentlichung in einem prächtigen Sammelband. Fünfzig Komponisten von A wie Assmayer bis V wie Voříšek hielten sich an die Vorgabe, so auch Franz Schubert, der erst elfjährige Franz Liszt, Carl Czerny, Johann Nepomuk Hummel, Ignaz Moscheles oder Friedrich Kalkbrenner.
Effektvoller Reißer, Schule der Geläufigkeit oder empfindsames Impromptu – die fünfzig Stücke des zweiten Bandes der Diabelli-Variationen stellen den kompositorischen Durchschnitt des damaligen Wiener Musiklebens dar. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die singuläre Erscheinung Beethovens begreifen. Denn er begnügte sich nicht mit einer Variation, sondern lieferte deren 33, die den ganzen ersten Band beanspruchten. Und statt das Thema mit virtuosen Umspielungen zu verzieren, zerlegte er es gnadenlos in seine banalen Einzelteile. Aus denen baute er dann ganz Neues, etwa einen pompösen Marsch oder eine dreistimmige Doppelfuge.
Dieses Album hat gefehlt …
… weil es durch die neuen Kompositionsaufträge Beethoven in die Gegenwart holt!
Dieses Album lädt ein …
… zum Nachdenken über das Wesen der Variation, die Beethoven im Vergleich zu seinen Zeitgenossen vollkommen neu erfindet.
Dieses Album führt bei Überdosis …
… möglicherweise dazu, dass einem selbst die eine oder andere Variation über Diabellis ohrwurm-artiges Thema einfällt!
Beethovens grandios vielgestaltiges Opus 120 mit den kaum bekannten Diabelli-Variationen der anderen Komponisten zu kombinieren – dieses Konzept hat Rudolf Buchbinder schon mehrmals verwirklicht. Zum "Diabelli Project" wird seine neue Einspielung durch die Idee, darüber hinaus heutige Komponisten aus aller Welt um neue Variationen zu bitten: Heraus kam ein globales Stilpanorama zu Beethovens 250. Geburtstag. Mit dabei sind die Russen Lera Auerbach und Rodion Schtschedrin, der Australier Brett Dean, der Chinese Tan Dun, der Japaner Toshio Hosokawa, der Brite Max Richter und der Deutsche Jörg Widmann. Ob schräg, witzig oder meditativ – immer ist der lustvoll kreative Umgang mit Diabellis harmlosem "Schusterfleck" herauszuhören.
Christian Jost nannte seinen Beitrag schlicht "Rock it, Rudi!", was sich Meister Buchbinder denn auch nicht zweimal sagen ließ. Und zu den amüsantesten zeitgenössischen Beiträgen gehört sicher der von Jörg Widmann: Er scheint sich zu fragen, ob das seltsam zackige Thema Diabellis überhaupt das Zeug zum Walzer hat, erkennt dann eine eklatante Verwandtschaft mit dem Radetzky-Marsch und lässt es zu guter Letzt noch zum Boogie-Woogie mutieren!
Ludwig van Beethoven:
Diabelli-Variationen, op. 120
Diabelli-Variationen von Hummel, Kalkbrenner, Kreutzer, Liszt, Moscheles, Franz Xaver Mozart, Schubert, Czerny
Lera Auerbach: Diabellical Waltz
Brett Dean: Variation for Rudi
Toshio Hosokawa: Verlust
Christian Jost: Rock it Rudi
Brad Lubman: Variation for R. B.
Philippe Manoury: Zwei Jahrhunderte später
Max Richter: Diabelli
Rodion Schtschedrin: Variation on a Theme of Diabelli
Johannes Maria Staud: A propos de Diabelli
Tan Dun: Blue Orchid
Jörg Widmann: Diabelli-Variation
Rudolf Buchbinder (Klavier)
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Piazza" am 4. April 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK