Der Dirigent Hermann Scherchen war einer der kreativsten und innovativsten Köpfe des 20. Jahrhunderts: ein streitbarer Linker, der russische Arbeiterlieder ins Deutsche übersetzt hat. Einer, der durch seine Begegnung mit Arnold Schönberg auf die Spur der Moderne gebracht wurde. Der Zeitschriften und Verlage für zeitgenössische Musik gegründet hat. Ein Schwerpunkt war seine intensive Auseinandersetzung mit Beethoven. Jetzt ist Scherchens epochaler Beethoven-Zyklus aus den frühen 1950er-Jahren in einer Box erschienen.
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Schnörkellose Klarheit war für Hermann Scherchen oberstes Gebot. Exemplarisch zeigt das der berühmte Beginn der Fünften Symphonie Beethovens, der bei anderen Dirigenten gern mal wackelt oder ausfranst. Scherchen war ein Verfechter radikaler Werktreue. Dazu passt: Als einer der ersten Dirigenten hat er sich an Beethovens Metronomzahlen orientiert, die teilweise rasante Tempi vorgeben. Schnelligkeit ist aber noch kein Wert an sich. Scherchen weiß das – und lässt den Beginn des Larghettos aus der Zweiten Symphonie von den Streichern des Royal Philharmonic Orchestra London wunderbar weich und ausdrucksvoll aussingen.
Jegliche Anflüge von Pathos und Sentimentalität, wie sie etwa Wilhelm Furtwängler bei Beethoven weihevoll zelebriert hat, waren Scherchen vollkommen fremd. Stattdessen ist sein Blick auf Beethoven immer progressiv. Im Scherzo der Neunten entfesselt er mit dem Orchester der Wiener Staatsoper einen wahren Höllenritt.
Dieses Album muss man haben, weil …
… hier ein legendärer Beethoven-Zyklus zum ersten Mal auf CD greifbar ist.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… die Mono-Aufnahmen aus den frühen 50er-Jahren in exzellent restaurierter Klangqualität vorliegen – da rauscht, knistert oder knackt nichts.
Dieses Album lädt ein zum …
… Staunen, was für ein "modernes" Beethoven-Bild uns hier schon von einem Dirigenten einer längst vergangenen Ära vermittelt wird.
"Con brio – Mit Schwung": Diese von Beethoven häufig verwendete Vortragsanweisung sorgt in Scherchens Interpretation für frischen Wind. Erstaunlicherweise wirkt sein Beethoven-Zyklus aus den frühen 50er-Jahren völlig homogen, obwohl er ihn mit zwei verschiedenen Orchestern aus Wien und London eingespielt hat. Die Mono-Produktionen liegen jetzt in hervorragend restaurierter Klangqualität zum ersten Mal auf CD vor. Ein Probenmitschnitt zeigt Scherchen als Präzisionsfanatiker und Perfektionisten, als strengen Zuchtmeister und humorvollen Animateur. Im Allegretto scherzando der Achten Symphonie arbeitet er den tickenden Pulsschlag mit messerscharfer Artikulation plastisch heraus.
Unerhört "modern" wirkt Scherchens Beethoven, in vielem hat er intuitiv schon Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis vorweggenommen. Bestes Beispiel für Scherchens Kunst ist die Fünfte Symphonie. In der Coda übertrifft er mit seiner furiosen Raserei sogar noch Teodor Currentzis in dessen aktueller Neuaufnahme – und das will was heißen!
Ludwig van Beethoven:
Sämtliche Symphonien und fast alle Ouvertüren (außer "Egmont")
"Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria” op. 91 (mit Probe)
Große Fuge B-Dur op. 133 in der Bearbeitung von Felix Weingartner
(Historische Aufnahmen von 1951 bis 1960)
Orchester der Wiener Staatsoper
Royal Philharmonic Orchestra London
English Baroque Orchestra
Leitung: Hermann Scherchen
Label: Deutsche Grammophon (7 CDs plus Bonus-CD)
Sendung: "Piazza" am 13. Juni 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK