Als die Sopranistin Simone Kermes vor einigen Jahren beim Deutschlandfunk eingeladen war, brachte sie ihre Lieblingsmusik mit: Musik von Bach und Hasse, aber auch AC/DC und Rammstein. Nur weil sie klassisch singt, hört bei der Leipzigerin Simone Kermes der Horizont nicht bei Händel, Mozart oder Belcanto auf. Das Singen gelernt hat sie bei den Großen, bei Elisabeth Schwarzkopf zum Beispiel und bei Dietrich Fischer-Dieskau. Was sie aus ihrer Stimme und der Musik macht, hat sie immer aus sich selbst geholt. Ihr neues Album "Inferno e paradiso" ist dafür ein hervorragendes Beispiel.
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1976, West-Deutschland boomt, das Wirtschaftswunder floriert, alle haben alles, und das im Überfluss. Darf‘s noch etwas mehr sein? Aber bitte mit Sahne! Udo Jürgens' Hit über die Torten-süchtigen Witwen ist ein Schlager-Klassiker, partytauglich, zum Mitgrölen. Für Simone Kermes ist er noch etwas: Sinnbild für Ausschweifung, Maßlosigkeit, Völlerei.
Ups, Völlerei, da war doch was? Richtig, dahinter verbirgt sich eine der sieben Todsünden. Habgier, Wollust, Zorn, Neid und Trägheit sind die anderen, und: Hochmut. Für die Sopranistin Simone Kermes das größte Laster. Und was würde besser dazu passen, als Led Zeppelins "Stairway to Heaven", dieses Drama um eine Lady, die alles nimmt und nichts gibt, die mit Gold und Geld ihr Glück kaufen will?
Die sieben Todsünden stehen motivisch Pate für Simone Kermes' sensationelles, eigenwilliges und vogelwildes Album mit dem Titel "Inferno e paradiso". Für all diese Laster findet Simone Kermes einen musikalischen Zwilling. Im Barock bei Bach, Caldara und Hasse bedient sie sich dabei genauso selbstverständlich wie bei Lady Gaga, Udo Jürgens und Sting. Was im Original nicht geht, wird vom finnischen Komponisten Jarkko Riihimäki arrangiert: originell, verschmitzt und wie gemacht für die Kehle von Simone Kermes.
Dieses Album muss man haben, weil …
… Simone Kermes so lustvoll in die menschliche Seele schaut.
Dieses Album wird faszinieren, wer …
… alles Menschliche liebt und an allem Menschlichem verzweifelt.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… Simone Kermes in der Zeitlosigkeit von Kunst nach Antworten für uns für heute sucht.
Und – nicht zuletzt, sondern am wichtigsten:
Dieses Album rockt, weil …
… Simone Kermes an Wahrheiten kratzt und uns den Spiegel vorhält – witzig, pfiffig und nachdenklich.
Der Zustand unserer Welt, der Menschen und der Natur – darum, und um nichts weniger, geht es Simone Kermes. Zum Glück gibt es neben dem "Inferno" das "Paradiso". Sprich: die Hoffnung, die Gegenbewegung, die entsprechende Tugend zum Laster. So wie Stings "Fields of Gold", warme Sonnenstrahlen auf einem friedlichen Feld. Wohlwollen anstelle von Neid.
Das beste Gegengift gegen Arroganz und Selbstverliebtheit? Demut. Etwas altmodisch, das Wort. Aber die Idee ist zeitlos. Die Leipzigerin Kermes findet sie direkt vor der Haustür, bei Johann Sebastian Bach. Zorn und Wut, Aggression und Ellenbogenmentalität lassen sich mit dieser Musik bändigen. "Aufschub!", empfahl vor zweitausend Jahren der Philosoph Seneca, heute würde man sagen: "Geduld, calm down, erstmal durchatmen!"
"Wichtig ist, dass man immer wieder zurückgeht auf das Maß. Man soll ruhig mal übertreiben, man soll wissen, wie das geht – aber dann bitte wieder zurück. Das ist eigentlich die Philosophie dieser gesamten Story."
Es gibt Künstler, die sich mit dem Argument, sie seien "doch nur Künstler" raushalten aus allen gesellschaftlichen, politischen, menschlichen Debatten. Und es gibt die anderen, die in der Zeitlosigkeit der Kunst nach Antworten für uns für heute suchen. Simone Kermes ist so jemand: Klimawandel, Artensterben, Terrorattacken lassen sie nicht kalt. "Tugenden und Todsünden, irgendwo dazwischen pendelt unser Leben", schreibt sie im Booklet. Ja, würde ich ihr beipflichten, aber sind wir noch in Balance? Fragen Sie sich das am besten selbst und hören Sie Simone Kermes dabei zu. Dass sie gut singt, ist eh klar. Über das, was sie singt, lohnt es nachzudenken.
Arien und Lieder von Händel bis Lady Gaga
Simone Kermes (Sopran)
Amici Veneziani
Label: Sony Classical
Sendung: "Piazza" am 22. Februar 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK