Das Repertoire der Geigerin Baiba Skride ist höchst divers: Bei ihr stehen Sofia Gubaidulina, Eugene Ysaÿe und Arthur Honegger ganz selbstverständlich neben Brahms, Tschaikowsky oder Sibelius. Jetzt hat sie amerikanische Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts eingepielt. Eine CD, die zeigt, dass Musik immer auch politisch ist.
Your browser doesn’t support HTML5 audio
Die Liste ist lang: deutschsprachige Emigrantinnen und Emigranten, die vor den Nazis in die USA geflohen sind. Hunderttausende machten sich allein im Frühjahr 1938 auf den Weg. Unter ihnen auch der Österreicher Erich Korngold. Das Wunderkind. Der gefeierte Star, in den 1920er Jahren hochkatapultiert durch seine Oper "Die tote Stadt". Dann als Jude unerwünscht und verfolgt. In Amerika schließlich die große, zweite Chance: Hollywood. Erich Korngold war auch hier schnell ein Star. Doch 19 Filmmusiken und drei Oscars später hatte der Komponist zwar das Standing, Regisseuren in ihre Arbeit reinzureden – die etablierten, diskursbestimmenden Experten der Ernsten Musik hingegen, die hatten ihn längst vergessen. Mit seinem Violinkonzert D-Dur op. 35 wollte Korngold das ändern und an seine großen Erfolge in Europa anknüpfen.
Hollywood-Konzert, grantelten die Kritiker. Und tatsächlich ist das heute sehr beliebte Konzert gespickt von süchtig machenden Filmmusikmelodien. Melodien, die gerade so am Kitsch vorbei singen. Und die Baiba Skride mit ihrem unverwechselbar leuchtenden Geigenton zum Strahlen bringt, gemeinsam mit den Göteborger Symphonikern unter Dirigent Santtu-Matias Rouvali. Irrsinnig schwer ist das Konzert. Doppelgriffe, Flageolett-Töne in schwindelerregender Höhe. Für Jascha Heifetz, dem Korngold das Konzert damals in die Finger geschrieben hat, kein Problem. Für Baiba Skride auch nicht.
Die Geigerin spielt phänomenal. Stilsicher. Nicht nur das Korngold-Konzert, sondern auch das technisch und vor allem rhythmisch noch herausforderndere Violinkonzert von Miklós Rózsa aus dem Jahr 1953. Auch der Ungar Miklós Rózsa fand in Amerika eine neue Heimat. Hollywood, Filmmusik, Oscar-Gewinner – es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen Rózsa und Korngold. Aber anders als Korngold kümmerte es Rózsa nicht weiter, dass die Kritiker ihn nicht als ernsten Komponisten wahrnahmen. Er sah das pragmatisch, schrieb Filmmusik, verdiente damit eine Stange Geld und finanzierte so andere Einspielungen. Etwa die seines Violinkonzertes. Auch hier brilliert Baiba Skride mit ihrem einzigartigen Klang, der luftig ist und selbst in den rasanten Passagen von einer besonderen Sanftheit.
"Ich fühle mich als Europäerin", sagt Baiba Skride. Die Geigerin lebt seit vielen Jahren in Hamburg, ist nur noch sporadisch in Lettland und fühlt sich weder sonderlich deutsch noch lettisch. Ob die Migranten Korngold und Rózsa sich amerikanisch gefühlt haben? Oder österreichisch, ungarisch? Und der Einwanderersohn Leonard Bernstein, dessen Serenade für Violine und Orchester die Doppel-CD von Baiba Skride komplettiert, gemeinsam mit den Sinfonischen Tänzen aus der "West Side Story"? Und ist die Antwort auf diese Frage überhaupt wichtig? Auf jeden Fall erzählt die neue CD von Baiba Skride in jeder Hinsicht hörenswerte musikalische Migrationsgeschichten. Vielfältiger geht’s kaum.
Leonard Bernstein:
Serenade für Violine und Orchester nach Platos "Symposium"
"West Side Story" (Sinfonische Tänze)
Erich Wolfgang Korngold:
Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35
Miklós Rózsa:
Konzert für Violine und Orchester op. 24
Baiba Skride (Violine)
Sinfonieorchester Göteborg
Philharmonisches Orchester Tampere
Leitung: Santtu-Matias Rouvali
Label: Orfeo
Sendung: "Leporello" am 15. November 2018, 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK