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CD - Camille Bertault "Pas de Géant"

Mit einem selbst aufgenommenen, unspektakulären Privat-Video landete Camille Bertault 2015 einen Youtube- Hit: Eine fast beiläufig gesungene A-cappella-Version des John Coltrane Klassikers "Giant Steps" sorgte für den großen Erfolg. Inzwischen hat sie in New York schon ihr zweites Album aufgenommen - mit Band. Es heißt "Pas de Géant".

Der CD-Tipp zum Anhören:

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Die Riesenschritte oder eben "Pas de Géant" sind die Terz- und Quartintervalle in der Melodie des harmonisch hoch anspruchsvollen "Giant Steps". Camille Bertault hat einen Text für das Stück geschrieben - auch für das in halsbrecherischem Tempo nachgesungene Saxofonsolo, das Coltrane in der Originalaufnahme spielt. Vocalese heißt die Kunstform und scheint eine der leichtesten Übungen für die junge, französische Stimmvirtuosin. Im Text geht es über ihr Leben und darüber, welche Rolle John Coltrane und der Jazz darin spielen. Atemberaubend swingt hier der Bebop, und manchmal ist er auch unterlegt von einem Hip-Hop Beat.

Sinnvolles Ravel-Puzzle

Das deutet schon darauf hin, dass Camille Bertault sich nicht nur für Jazz interessiert. Das Repertoire auf ihrer neuen CD ist absolut heterogen, und die Texte sind - bis auf zwei - in französischer oder lautmalerischer Silbensprache. In diesen zitiert die ehemalige Klavierstudentin in dem von ihr komponierten Vierminüter "Arbre Ravéologique" Kompositionen von Maurice Ravel. Aus den Klavierzyklen "Miroirs", "Gaspard de la nuit", "Le Tombeau de couperin", den "Valses nobles et sentimentales", den "Cinq pièces enfantines", dem "Concerto pour la main gauche" und dem "Boléro" stammen die von ihr zu einem sinnvollen Neuen zusammengesetzten Teile. Klang und Wort sprudeln und strömen aus diesem genialischen Wesen, wenn sie ihren "Seelen-Stammbaum" auf die Musik Ravels zurückführt.

Bewegliches, helles Timbre

Camille Bertault setzt sich mit Witz und einer herrlich leichtfüßigen Ernsthaftigkeit über alle Stilgrenzen hinweg. Perfekte Intonation, bestechendes Timing, ungeheure Präzision, beeindruckende Höhen und ein höchst bewegliches, helles Timbre - alles ist in schönst möglicher Weise vorhanden. So ausgerüstet macht sie sich Kompositionen von Serge Gainsbourg und Michel Legrand zu eigen, streift einmal kurz die Goldberg-Variationen, interpretiert die Musik von Jazzgrößen wie Wayne Shorter und Bill Evans und überzeugt auch mit acht eigenen der insgesamt Kompositionen auf dem Album. Die Band mit hervorragender Rhythmusgruppe, einem Bläsersatz und in manchen Stücken um ein Cello oder ein Akkordeon erweitert, spielt erstklassige Arrangements des Trompeters Michael Leonhart, und mit dem Pianisten Dan Tepfer hat sie einen ungemein spannend agierenden Begleiter und Dialogpartner an ihrer Seite.

Literarisch-musikalisches Gesamtkunstwerk

Nur wenn sie George Brassens' Chanson "Je me suis fait tout petit" interpretiert, wird sie manchmal eine Spur zu hysterisch und theatralisch, gleitet ins Parodistische ab und wird damit dem subtilen, liebevoll-ironischen Tonfall des Originals nicht gerecht. Um dieses Stück auszufüllen fehlt es vielleicht noch etwas am Lebenserfahrungshorizont. Im Großen und Ganzen aber ist dies ein perfektes Album für alle, die Abwechslung und Überraschung lieben, frankophile Gefühle hegen und sich mitreißen lassen wollen von einem literarisch-musikalischen Gesamtkunstwerk und dem jugendlichen Esprit der fabelhaften Camille Bertault.

Camille Bertault: "Pas de Géant"

Camille Bertault (Gesang)
Michael Leonhart (Arrangements, Trompete)
Dan Tepfer (Klavier)
Christophe Minck (Bass)
Jeff Ballard (Schlagzeug u.a.)

Label: Sony Music

Sendung: "Leporello" am 1. Februar 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK