Vor einiger Zeit landete ich beim Zappen durchs Autoradio mitten in einer Konzertübertragung. Das Orchesterstück faszinierte mich sofort, mit seinem Farbenreichtum und seinen prägnanten Rhythmen. Das war moderne Musik mit ungeheurer Suggestivkraft: effektvoll, aber nicht oberflächlich, virtuos, ohne sich anzubiedern. Gebannt blieb ich sitzen, auch als meine Fahrt schon längst vorbei war, weil ich unbedingt wissen wollte, von wem dieses Stück stammte. Und hörte dann staunend den Namen eines Mannes, der vor allem als unerschrockener Neue-Musik-Dirigent Karriere gemacht hat: Johannes Kalitzke.
Your browser doesn’t support HTML5 audio
Nun ist das Stück, das mich damals so gepackt hat, auf CD erschienen. "Story Teller" heißt es und ist ein virtuoses Cellokonzert. Die Aufnahme mit Johannes Moser und dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin unter Johannes Kalitzke selbst bestätigt den ersten Höreindruck: "Story Teller" klingt überbordend fantasievoll und hat zugleich Tiefgang. Der Titel bezieht sich auf einen Bildband des Modefotografen Tim Walker. So wie der in seinen inszenierten Fotos surreale, oft alptraumartige Geschichten erzählt, so erzählt auch der versierte Musiktheaterkomponist Kalitzke in seinem dramaturgisch abwechslungsreichen Konzertstück eine Geschichte: Im Verhältnis von Solist und Orchester spiegelt sich das vergebliche Aufbäumen des Individuums gegen die Bilderflut der Medien und die sirenenhaft süßlichen Verführungen der Konsumwelt.
Gesellschaftskritik ist eine wichtige Konstante im Schaffen von Johannes Kalitzke, seit er 1996 bei der Münchner Biennale erstmals von sich reden machte. Im Kontrast dazu erscheint das zweite Stück auf der CD schon von der Besetzung her deutlich privater und intimer - ebenfalls ein Solokonzert, diesmal allerdings für die Geigerin Ivana Pristašová und das nur sechsköpfige "österreichische ensemble für neue musik". Fünf Nachrufe hat Kalitzke hier komponiert, auf verstorbene Freunde und Kollegen, etwa auf den Kärtner Tenor Walter Raffeiner, dessen intensives Leben Kalitzke im Bild einer "brennenden Uhr" fasste.
"Figuren am Horizont" entstand ursprünglich als Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks für die Erlanger Konzertreihe "unerHÖRT!". Es sind fünf Figuren, die sich entfernen, langsam verschwinden, bis sogar die Erinnerung flüchtig wird. Kalitzke hat bewusst keine Porträts geschrieben, sondern den Prozess des Erinnerns und Vergessens in musikalische Verfahren übersetzt. Die Abstraktion hebt die Trauer ins Allgemeine, doch bleibt die existentielle Betroffenheit stets spürbar. Am Ende weht der Schatten eines Wienerlieds durch die Komposition. Ein zentrales Stück im Schaffen Kalitzkes, das er auch bei seinem Antrittskonzert in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste aufs Programm setzte. Und abermals: eine intensive Hörerfahrung.
"Story Teller" für Violoncello und Orchester
"Figuren am Horizont" für Violine und sechs Instrumentalisten
Johannes Moser (Violoncello)
Ivana Pristašová (Violine)
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
österreichisches ensemble für neue musik
Leitung: Johannes Kalitzke
Label: KAIROS
Sendung: "Leporello" am 12. September 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK