Es gibt immer noch zwei Möglichkeiten, über Yuja Wang zu reden. Bei der einen geht es um Musik, bei der anderen um Klamotten. In China geboren ist sie obendrein, und das Vorurteil, Musiker aus Asien seien eigentlich außerstande, den Tiefgang von Beethoven oder Brahms zu erfassen, gehört keineswegs der Vergangenheit an. Um Beethoven oder Brahms geht es allerdings nicht in Yuja Wangs Konzertmitschnitt aus der Berliner Philharmonie vom Juni dieses Jahres. Der Abend war neben drei Etüden des Ungarn György Ligeti ausschließlich russischen Komponisten gewidmet: Rachmaninow, Skrjabin und Prokofjew.
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Die spielt Yuja Wang hinreißend – nicht nur mit der erwarteten fulminanten Technik und atemberaubender Virtuosität, sondern vor allem mit fantastischen Klangfarben und viel Gespür für Zwischentöne. Wie sie die aberwitzig dichte Polyphonie in Alexander Skrjabins zehnter Klaviersonate auffächert und hörbar macht, ohne dem Spätwerk seine mystisch versponnene Aura zu rauben, das ist großes Klavierspiel.
Prokofjews Achte Klaviersonate, 1944 komponiert, ist das Dokument einer brutalen Epoche und Ausdruck der Sehnsucht nach Frieden in einem vor allem für die Heimat des Komponisten unfassbar grausamen Krieg. Haltlos schwankt das Stück zwischen lyrischer Verträumtheit, unheimlicher untergründiger Bösartigkeit und dramatisch aufgetürmten Bruitismen. Yuja Wang zwingt den Facettenreichtum des halbstündigen Riesenwerks unter einen großen Spannungsbogen. Ja, sie erlaubt sich ausgedehnte Seitenwege ins gesanglich Poetische, doch die Architektur dieser im Grunde völlig klassischen Sonate gefährdet sie dabei nie. Sogar der großen, schnell ins Lärmige abgleitenden Ostinato-Episode des Finalsatzes und der leicht plakativen Schlussapotheose ringt sie eine breite Palette an Farben und Nuancierungen ab.
Das gilt genauso für Ligetis verrückt anspruchsvolle Etüden und ohnehin für Sergej Rachmaninow. Yuja Wang spielt ihn hemmungslos expressiv und romantisch, aber sie streift nie die Grenze zum Kitsch. Yuja Wangs Berlin Recital: das Dokument eines fulminanten Klavierabends.
Sergej Rachmaninow: Préludes und Études tableaux
Alexander Skrjabin: Klaviersonate Nr. 10 op. 70
György Ligeti: Drei Etüden
Sergej Prokofjew: Klaviersonate Nr. 8 B-Dur, op. 84
Yuja Wang (Klavier)
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Leporello" am 09. November 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK