Am Freitag wird das handschriftliche Manuskript von Bachs Messe in h-Moll in Berlin als Welt-Dokumenterbe ausgezeichnet. Bachs Kompositionskunst erlebt unser Kolumnist Laszlo Molnar wie die Präzisionsarbeit eines Raumfahrtingenieurs - so genial schickt Bach seine Hörer mit musikalischem Raketenantrieb in höhere Sphären.
Seit ich denken kann, ist diese wunderbare Partitur für mich ein Teil der Welt. Sie ist für mich so, als sei sie schon immer da gewesen. Nicht von einem Menschen erschaffen, sondern durch Raum und Zeit auf uns gekommen, auf jeden Menschen, der geboren wird, weil es sie schon immer gab. Bachs h-Moll-Messe ist für mich ein Teil der Schöpfung, den Menschen mitgegeben auf ihren irdischen Weg als Erinnerung daran, dass sie, nach unserem Verständnis, nicht nur Fleisch, sondern vor allem Geist sind. Dieses „Credo in unum Deum“, das Bach so einzigartig und nie mehr erreicht vertont hat, gilt für mich dabei nicht nur für den Gott der Christenheit. In allen Kulturen auf dieser Welt glaubt man an einen Gott oder an etwas Göttliches. Die h-Moll-Messe ist die christliche Tonwerdung schlechthin dieses Glaubens. Keine andere Messkomposition ist so tiefgründig, so vielschichtig, so umfassend. Bach stellte das gewaltige Werk Mitte des 18. Jahrhunderts aus den besten seiner eigenen Kompositionen zusammen – sie ist seither die längste Messvertonung geblieben.
Während meiner Studienzeit habe ich im Chor gesungen. Leider nie die h-Moll-Messe. Nun singe ich in einem Münchner Chor. Wir proben die h-Moll-Messe. Zum ersten Mal komme ich ihr ganz nahe, und sie kommt mir auch nahe. Welch eine Herausforderung! Wer sich durch das Werk durchsingen muss, der könnte sie für ein schieres Konstrukt halten. Das ist Musik in ihren Elementarteilchen: Tonhöhen Intervalle, Notenwerte, Harmonien. Für den Chor nichts, das man als „Melodie“ bezeichnen könnte. Motive sind das größte Entgegenkommen Bachs an seine Musiker. Er war Purist. Aber was für einer. Den Newton der Musik nannte ihn der Forscher Christoph Wolff in seiner so wunderbar lesbaren Biographie. Den Entdecker und Begründer dessen, was unsere Musik im Innersten zusammenhält. Klavierstudenten erfahren das im „Wohltemperierten Klavier“. Der Chorsänger in der h-Moll-Messe.
Stets bin ich ergriffen von den innigen Partien der h-Moll-Messe, den beiden Kyries, dem Qui tollis, dem Et incarnatus est und dem Cruzifixus. Da führt uns Bach wie selbstverständlich in die tiefsten Regionen unseres Bewusstseins. Ruhig, fest wie ein „guardian“ – Begleiter, Wächter, Helfer wären deutsche Worte dafür – der uns den Weg weist und uns dort hält.
Was mich dann aber gänzlich durchdringt und körperlich packt, das ist der Jubel, den Bach immer wieder los- und hochschießen lässt. Meine Güte, was für Explosionen. Wo in den stillen Passagen eine meditative Einkehr für den Kopf herrscht, da reißt Bach in der Freude den ganzen Menschen mit. Eine Rakete direkt zur Himmelfahrt. So kommt mir seine Jubel-Musik vor, das Gloria, das Cum sancto spiritu, das Et resurrexit sowieso: als perfekt geplante Zündung mehrstufiger Raketen. Das Et resurrexit - die Auferstehung nach der Grablegung - ereignet sich in einem Dreiklang, in meiner Stimme Bass innerhalb einer Oktave. Aber wie sich das anfühlt, was in den Noten so schlicht und klar aussieht! Gerade noch musste ich in düsteren Halbtonschritten davon singen, wie der Erlöser der Christenheit gekreuzigt wurde, starb und beerdigt wurde. In ganz tiefer Lage ruht der Akkord in sich. Da zündet Chefingenieur Bach unvermittelt seine Treibsätze, quasi ohne Vorwarnung, mit vollem Feuerzauber. Alle müssen sofort ran, die Sängerinnen und Sänger, das Orchester. Das fährt wie ein Schlag durch die Glieder.
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Bildquelle: picture-alliance/dpa
Das ist ebenso grandios wie gnadenlos komponiert. Wie oft musst das geprobt werden, bis die Intervalle stimmen und alles ineinandergreift. Wir müssen uns durchbeißen, Frustrationen aushalten. Da gibt es nicht wenige Härten, denn Bach nahm auf seine Choristen keine Rücksicht. Gerade die h-Moll-Messe erscheint mir wie ein Konzert für Singstimmen. Alles ist so gesetzt, dass der Kontrapunkt stimmt und die Gesamtwirkung maximal ist. Siehe die Rakete zur Auferstehung. Ob das wirklich gut singbar ist, darum hat Bach sich wenig gekümmert. Auf den ersten Blick ist meine Stimme ein Wald von manchmal wirklich haarigen Intervallsprüngen. Das zu hören ist phantastisch. Sich da durchzusingen: das fordert höchste Konzentration. Nun glaube ich verstehen zu können, warum Bach sich immer wieder so heftig über seine Sänger im Thomanerchor geärgert hat. Es waren nicht nur zu wenige, wie er es dem Leipziger Stadtrat gegenüber stets beklagte. Die Jungs waren bestimmt auch überfordert von Bachs Satzkünsten und mussten sich plagen, alles sauber zu singen. An vielen Teilen der über gut dreißig Jahre hinweg entstandenen h-Moll-Messe hatten sie sich abarbeiten müssen – aber Bach wich nicht ab von seinem Kurs.
Wenn ich jetzt als Sänger diese Noten vor mir habe, dann denke ich bei aller Arbeit auch daran, wie Bach selbst daran gearbeitet hat. Wie er die Stücke aus seinem Schaffen wählte, um sie zu seinem „Opus summum“ zusammenzustellen. Ich kenne alle Kantatensätze, auf den denen die Chöre der h-Moll-Messe fußen. Es sind welche aus Bachs frühen Tagen dabei. Er befand sie für so gut, dass er sie hier, am Ende seines Lebens, wieder aufnahm. Bach formte sie so um, dass sie völlig zeitlos, für immer gültig wurden. So, als seien sie schon immer da gewesen.