Martin Lehmann ist seit zehn Jahren künstlerischer Leiter des Windsbacher Knabenchores, er ist beliebt und anerkannt. Nun wurde bekannt: 2022 soll er den Dresdner Kreuzchor übernehmen. Lehmann ist gebürtiger Dresdner und war schon als Schüler Kruzianer – das dürfte allerdings nicht der einzige Grund für seinen Weggang sein. BR-KLASSIK-Redakteurin Ursula Adamski-Störmer kommentiert.
Dieser Weggang schmerzt. Vielmehr noch: Dieser Weggang legt eine Achillesferse frei, die hinter den Kulissen in den letzten Monaten schon reichlich malträtiert wurde. Ausgerechnet im 75. Jubiläumsjahr des traditionsreichen und international etablierten Windsbacher Knabenchores kehrt der künstlerische Leiter Martin Lehmann seinen Zöglingen den Rücken und übernimmt den Dresdener Kreuzchor. Wer Martin Lehmann kennt, weiß, dass er diesen Entschluss nicht leichtfertig gefasst hat.
Diese Abwendung hat Gründe, und sie liegen sicher nicht darin, dass die Arbeit mit dem Windsbacher Knabenchor Martin Lehmann nicht mehr erfüllt hätte. Wie sonst ist es erklärbar, dass ein vielgeliebter und allseits anerkannter Chorleiter das verlässt, was ihm mehr als alles andere am Herzen liegt: seinen Chor, den er auf beeindruckende Art und Weise zehn Jahre geformt und erfolgreich durch die Coronakrise gebracht hat. Davon zeugen jüngste Auftritte.
Knabenchöre sind ein äußerst fragiles Konstrukt, leben von einem kontinuierlichen Erneuerungsprozess: ein ständiges Perpetuum mobile, das klug, mit Weitsicht und kontinuierlicher Arbeit mit der Stimme abgefangen, begleitet und geformt werden muss. Insbesondere bei einem international so erfolgreichen und gefragten Knabenchor wie den Windsbachern. Diese Arbeit hat Martin Lehmann in den zehn Jahren seiner bisherigen Arbeit mit größtem Engagement und enormer Begeisterung und Begeisterungsfähigkeit grandios gemeistert. Auch im letzten Jahr mit seinen extrem erschwerten Bedingungen wegen fehlender regelmäßiger Probe- und Konzertmöglichkeiten.
Wer die Strukturen kennt, ahnt warum. Zu viel Eifersucht und zu viel Ehrgeiz, der sich in bürokratischen Kleinlichkeiten verliert. Gleichzeitig: fehlender professioneller Sachverstand und ein Mangel an Begeisterungsfähigkeit, den das Management eines Klangkörpers von Weltruhm zwingend benötigt, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Hinzu kommen Sparzwänge. Bislang unterstützt die Evangelische Landeskirche Bayern die Finanzierung der Anstalt öffentlichen Rechts mit gut 40%. Lange schon ist es kein Geheimnis, dass sie sich diese Unterstützung mittelfristig nicht mehr wird leisten können.
Jüngste Personalentscheidungen, die Internatsleitung und Geschäftsführung des Knabenchores in Personalunion zusammenführten, dürften das Leben Martin Lehmanns in den letzten Monaten zusätzlich erschwert haben. Gewünschtes finanzielles Einsparpotential ist mit dieser Entscheidung sicherlich erreicht. Künstlerische Belange des Chores jedoch haben hier definitiv keine Rolle gespielt!
Und das bei einer Stelle, die neben der Vertretung christlicher Werte vor allem Managerqualitäten im internationalen Musikbusiness benötigt. Bei den Windsbachern handelt es sich eben nicht nur um einen liturgischen Gebrauchschor, der Gottesdienste musikalisch umrahmt. Auch das tut er. Regelmäßig! Sein Renommée aber sind seine internationalen Erfolge, die sich rund um den Globus erstrecken.
Deshalb geben Familien ihre begabten Jungs in die Obhut des Windsbacher Internats. Die Aussicht auf eine exzellente schulische und musikalische Ausbildung in Verbindung mit einmaligen und prägenden Erfahrungen auf internationalen Konzertbühnen sind es, die Eltern tief in die Tasche greifen lassen.
Will man die Windsbacher also im Managersprech "gesund schrumpfen"? Martin Lehmann jedenfalls hat die Konsequenzen gezogen. Doch noch haben die Windsbacher eine zweite Chance. Nun muss eine neue Persönlichkeit für die künstlerische Leitung gefunden werden. Und die muss Martin Lehmann das Wasser reichen können! Das heißt: Hier ist eine Findungskommission mit musikalischem Sachverstand dringend von Nöten!
Man kann nur beten und hoffen, dass sich die Kirche ihrer Verantwortung bewusst ist und den Nachfolger von Martin Lehmann wie einen künstlerischen Leiter von internationalem Format und nicht wie einen leitenden Angestellten behandelt, dessen Spielräume immer kleiner zu werden drohten. Eifersucht und falscher Ehrgeiz haben hier nichts zu suchen.
Martin Lehmanns Weggang schmerzt. Er und seine Windsbacher waren ein super Team! Er wird in Bayern fehlen – nicht nur im 75. Jubiläumsjahr.
Sendung: "Leporello" auf BR-KLASSIK am 27. Juli 2021 ab 16.05 Uhr