Gerade wird wieder einmal leidenschaftlich diskutiert in der Klassikwelt. Über die Malaktion von Künstler Herrmann Nitsch in Bayreuth zum Beispiel. Oder über den Dirigenten Teodor Currentzis, der für seine Auftritte in Salzburg gehyped und gehasst wird. Anlass für BR-KLASSIK-Autor Bernhard Neuhoff, sich ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen über eine seltsame, aber offenbar unverwüstliche Sache: die Musikkritik. Was ist ihr Sinn? Und was kommt bestenfalls dabei heraus?
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Ich muss Ihnen etwas gestehen. Wir Kritiker tun zwar oft so, als ob wir ewige Wahrheiten verkünden würden. In Wirklichkeit stimmt das aber gar nicht. Und das seltsame ist: Jeder weiß das, sogar wir Kritiker. Auch wenn wir gern im Brustton der Überzeugung sprechen und schreiben. Doch wir tun das aus gutem Grund. Der Zweck einer Kritik ist nämlich nicht, einen Streit zu schlichten. Früher sprach man hochtrabend von "Kunstrichtern". Genau das sind Kritiker nicht. Richter sollen Streit schlichten. Kritiker dagegen sollen das leidenschaftliche Gespräch über die Kunst anheizen – es dabei allerdings interessanter und informierter machen.
Opern haben es mit extremen Gefühlen zu tun. Diese sind ansteckend. Wer sich dagegen immunisiert, redet von vornherein an der Sache vorbei. Schon deshalb müssen Kritiken zugespitzt formuliert sein. Viel schlimmer als ein negatives Urteil ist die Gleichgültigkeit.
Zugegeben: Leider ist das nicht die einzige Ursache für den manchmal provozierenden Gestus der Unfehlbarkeit, mit dem einige Kritiker auftreten – in krassem Gegensatz zur offensichtlichen Anfechtbarkeit ihrer Äußerungen. Die größte Gefahr für diesen seltsamen Beruf ist die Eitelkeit. Am besten hilft dagegen solides Handwerk. Kritiker müssen so viel Hörerfahrung und Wissen sammeln wie möglich. Und sie sollten ein kritisches Verhältnis zu sich selbst entwickeln, also versuchen, eigenen Schwächen auf die Schliche zu kommen.
Dann besteht die Chance, dass der Streit um die Kunst nicht nur leidenschaftlich, sondern auch lustvoll und erhellend wird. Das gelingt immer dann, wenn eine Kritik dazu führt, dass man mehr hört und mehr sieht. Das Ziel ist also nicht allgemeine Einigkeit, sondern die Schärfung der Wahrnehmung. Deshalb müssen Kritiken Gründe zur Diskussion stellen, warum etwas gut und oder schlecht ist – oder sein könnte. Damit Sie, die Hörerinnen und Leser, sich Ihr eigenes Urteil bilden können. Gern auch, indem Sie sich an einer Kritik reiben. Wenn Sie nach der Aufführung anderer Meinung sind als ich, meinen Text aber trotzdem anregend fanden, ist das für mich das schönste Kompliment. Darüber freue ich mich mehr, als wenn Sie hundertprozentig meiner Meinung sind.
Denn es geht ja um eine gewinnbringende Fortsetzung, nicht um das Ende der Debatte. Das gäbe es erst, wenn irgendjemand die objektive, endgültige Wahrheit gefunden hätte. Glücklicherweise steht das nicht zu befürchten. Das wäre nämlich auch der Tod der Kunst.
Sendung: "Allegro" am 6. August 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK