Jugendbewegungen gibt es überall auf der Welt. Die aktuell populärste ist wohl "Fridays for Future", eine Bewegung bei der sich Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Welt für den Klimaschutz einsetzen. Aber gibt es eine Jugendbewegung auch in der Klassik?
Ja, wer möchte nicht Teil einer Jugendbewegung sein. Blöd nur, dass die Klassik das nicht hergibt. Da genügt ein Blick ins Parkett, übers Silbermeer, um zu kapieren: Hier komme ich nicht an, mit meinem spätpubertären Distinktionsbedürfnis. Keine Chance. Dann doch lieber: Tocotronic statt Telemann.
Bis jetzt zumindest. Seit einiger Zeit gibt's nämlich auch in der Klassik sowas ähnliches wie eine Jugendbewegung. Und zwar auf Social Media. Klar, wo sonst. Allerdings unter einem Motto, das jetzt nicht übertrieben nach Jugend riecht, nach Rebellion und Befreiung, nach Melancholie, Lakonie, Apathie, Euphorie, Entropie. Nein, das nich. Was auch immer, nix davon jedenfalls. Das Motto lautet: Go practise! Los, geh' üben, ran ans Instrument!
Kein: Macht kaputt, was euch kaputt macht! – einfach nur: Go practise! Klingt nach erhobenem Zeigefinger. Oder schlimmer noch – wie eine Variante des dämlichen: Dont’t cry, work! Jedenfalls nach Anpassung statt Abgrenzung, nach Fokus statt "Fuck you", Erfolg statt Erfahrung. Hauptsache, geil abliefern. Wie Hilary Hahn.
Eigentlich hat die das Ganze erst losgetreten. Vor etwa drei Jahren, via Instagram. Hahn filmt sich selbst, 100 Tage lang. Dokumentiert wie sie übt. Doppelgriffe, Läufe, Pizzicati. Einmal, zweimal, zehnmal, hundert Mal.
Klingt schweineöde, dieser Fleißporno, geht aber viral. Gefällt nicht nur Hahns über 250.000 Followern, sondern ist richtig ansteckend. Fast 40.000 Mal wird der Hashtag #100daysofpractice geteilt. Sucht man danach auf YouTube, wird man von Playlists regelrecht erschlagen: tausende Videos, in denen junge Bläser quietschen, Streicher kratzen und Pianisten danebenhauen.
Nicht "Go practise!" – "Show (your) practice" müsste das Motto eigentlich lauten. Zeigefreude statt Zeigefinger. Denn was alle eint, vom Violin- bis zum Bassoonfluencer, das ist der Mut, das eigene Scheitern auszustellen. Üben halt. Das Gegenteil des klassischen Bühnenperfektionismus.
Darin steckt dann doch 'ne gute Portion Abgrenzung. Und was Befreiendes. Von der Scham, die der kleinste Verspieler auslösen kann, weil Klassik manchmal leider mit Posterkunst verwechselt wird. Aber vor allem machen diese Clips sensibel für das mächtige Freiheitsgefühl, das einen durchschüttelt, wenn nach gefühlten tausend Tippelschritten plötzlich der Quantensprung gelingt. Scheitern, Scheitern, besser Scheitern oder so.
Ich glaub,‘ ich möchte Teil dieser Jugendbewegung sein.
Sendung: "Allegro" am 17. Juli, ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK