Das neue Festival "Bayreuth Baroque" begann mit einer gut fünfstündigen Premiere: "Carlo il Calvo" wurde seit knapp 300 Jahren nicht mehr aufgeführt und erweist sich als unterhaltsame "Telenovela" - in diesem Fall über einen vielköpfigen Drogen-Clan.
Also dieses Intrigenspiel reicht schon mal für eine Serienstaffel mit vierzig bis fünfzig Folgen, und weil solche Staffeln ja heutzutage gern am Stück geschaut werden, geht das auch völlig in Ordnung, dass dieser Bayreuther Opernabend gut fünf Stunden dauert, von 18 Uhr bis kurz vor Mitternacht. Mag sein, dass da mancher an seine Grenzen kommt, denn es ist halt nicht Wagner, sondern Barockmusik, und zwar eine eher spröde, die seit 300 Jahren nicht mehr aufgeführt wurde, aber Festivalchef und Regisseur Max Emanuel Cenčić gab sich wirklich alle Mühe, die sage und schreibe 35 Szenen in den Griff zu bekommen.
Und diese verrückten Sachen sind vor allem deshalb so unterhaltsam, weil Max Emanuel Cenčić nicht nur sieben Sänger auftreten lässt, sondern auch noch 18 Statisten, um auch wirklich einen ansehnlichen Familienclan präsentieren zu können, samt Hauspersonal. Großartig, wie die all die stummen Schauspieler ihre kleinen und kleinsten Rollen zum Mittelpunkt der Inszenierung machten.
BR-KLASSIK überträgt "Carlo il Calvo" im Radio am 8. September ab 18 Uhr live aus dem Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth.
Dieses Drama spielt sich auf irgendeiner Hacienda in den zwanziger Jahren ab, könnte eine Tabakplantage sein, soviel, wie hier geraucht wird – Zigaretten, Zigarillos, Zigarren. Aber Nikotin ist in diesem Kreis garantiert nicht die einzige Erwerbsquelle, es wird auch gelegentlich gekokst und geschluckt – offenbar macht diese Familie ihr Geld also im Drogengeschäft. Gleich am Anfang fällt der Pate beim Essen tot vom Stuhl, es stellt sich also die Frage, wer ihm nachfolgt. Und dann geht die Schießerei los - mit etwas Erpressung, Folter, miesen Tricks aller Art.
Der böse und machtgeile Lothar ist ein verklemmter Homosexueller, seine Frau trinkt sich die Bananenstauden schön, die Oma lässt sich hüstelnd durch die Kulisse schieben, die Teenager bringen heimlich die Palmen zum Wackeln, und jeder versucht jeden auszustechen. Am Ende wird Charleston getanzt, und es fällt wieder einer beim Essen tot um, das Spiel kann also in eine neue Runde gehen. Bühnenbildnerin Giorgina Germanou hatte es natürlich schwer, denn die eigentlich faszinierende Ausstattung ist ja das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth selbst, dieses Weltkulturerbe aus der Barockzeit, wo sich jeder Besucher fühlen kann wie Markgräfin Wilhelmine.
Stimmlich überzeugten vor allem Franco Fagioli als Liebhaber Adalgiso und seine Partnerin Julia Lezhneva als Gildippe. Ihnen ist auch das einzige Duett gegönnt, ansonsten hält sich Komponist Porpora streng ans Prinzip der Opera Seria, also einer Folge von Arie und Rezitativ. Das kann ermüden, der Chor hat nur am Schluss einen Kurzauftritt. Max Emanuel Cenčić selbst ist als Festivalleiter, Regisseur und Sänger wohl konditionell ans Limit gegangen, so richtig frei und ungestüm wie gewohnt klang er jedenfalls nicht.
Der griechische Dirigent George Petrou ließ sich regelrecht verzücken von der Partitur, die er stets mit weiten und sanften Bewegungen interpretierte: Da hätte mehr Abwechslung gut getan, mehr Tempoverschiebungen, mehr Kontraste. Etwas zu viel breiter Barock also – aber wie das so ist in einem richtigen Clan: Er gedeiht nur, wenn die Mitglieder nicht ständig aneinander herummäkeln, sondern verzeihen können.
Sendung: Allegro am 4. September ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK.