Das Opernhaus in Zürich startet die neue Spielzeit mit einer veritablen Großproduktion. Anders als die meisten Häuser in Deutschland setzt man nicht auf Kleinformatiges, Eingekürztes und Bearbeitetes. In Zürich feierte also am Sonntag Modest Mussorgskijs Oper "Boris Godunow" in der vollständigen Fassung mit vier Stunden Dauer und zwei Pausen Premiere. Eine einschränkende Bedingung des Hygienekonzepts gab es allerdings: Chor und Orchester wurden aus dem Opernhaus verbannt und von der Probebühne über eine akustische Anlage ins Haus zugespielt. Eine große Herausforderung auch für die Regie.
Von einer Playback-Oper kann bei Modest Mussorgskijs "Boris Godunow" am Opernhaus Zürich keinesfalls die Rede sein. Wenngleich die körperliche Präsenz von Chor und Orchester fehlt, die akustische ist phänomenal und die Übertragung von der einen Kilometer entfernten Probebühne funktioniert. Für die Herstellung der Balance mit den Solisten auf der Bühne sorgt nicht allein der Dirigent Kirill Karabits, sondern auch der verantwortliche Tonmeister Oleg Surgutschow. Er ist der Co-Dirigent dieses außergewöhnlichen Unterfangens.
John Daszak als Schuiski und Johannes Matin Kränzle als Jesuit Rangoni auf russischer und polnischer Seite sind stimmlich und darstellerisch die abgefeimtesten Intriganten seit langem. Zynische Diaboliker einer Machtgeschichte. Der Pimen von Brindley Sherratt gibt den stimmgewaltigen Verkünder von Historie. Edgaras Montvidas als Grigori und die Marina von Oksana Volkova bilden ein hervorragendes Zweckpaar und akzentuieren die nötige Doppelbödigkeit ihres scheinheiligen Liebesgeturtels. Alle anderen Rollen des üppigen Geschichtspanoramas sind exzellent besetzt.
Kirill Karabits leuchtet Mussorgskijs geniale Partitur bis in die letzten Winkel aus. Bei gemäßigtem Tempo gibt es hier bislang ungehörte Stellen, die endgültig das dumme Vorurteil vom Dilettanten Mussorgskij widerlegen. Der Abend bedeutet aber vor allem den Triumph des überragenden Michael Volle mit seinem Debüt in der Titelpartie. Er ist ein Bariton und nicht der gewöhnlich mit einem schwarzen Bass besetzte Boris. Die hellere Stimmlage rückt den Zaren menschlich näher, entfernt ihn von jener Unnahbarkeit der sonoren Tiefe. Und genau damit triumphiert Michael Volle stimmlich wie darstellerisch und öffnet neue Perspektiven.
Die Oper "Boris Godunow" in der Inszenierung von Barrie Kosky ist noch bis zum 20. Oktober am Opernhaus Zürich zu sehen – in russischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer der Aufführung: ca. 4 Stunden inklusive Pausen. Alle Termine und Informationen zum Ticketverkauf finden Sie hier.
Sendung: "Allegro" am 22. September 2020 um 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK