BR-KLASSIK

Inhalt

Cameron Carpenter im Interview "Der Künstler muss Fragen aufwerfen"

Bei ihm wird die Orgel zum elektronischen Musikkraftwerk. Das Publikum liebt seine Exzentrik und Leidenschaft. Seine Werkinterpretationen polarisieren. Cameron Carpenter interessiert das wenig, er kennt seinen Weg. Im Interview mit BR-KLASSIK spricht er über die besondere Beziehung zu seiner Orgel und über ihre Problematik.

Bildquelle: Heiko Laschitzki

BR-KLASSIK: Cameron Carpenter, wenn man Ihnen beim Orgelspielen zuschaut, sieht das immer sehr sportlich, sehr exzessiv aus. Was tut Ihnen danach mehr weh: die Finger und Arme oder die Füße, die Beine und die Zehen?

Cameron Carpenter: Idealerweise tut danach nichts weh. Aber vielleicht gibt es auch einen Widerspruch: Einerseits scheint die Orgel  ein sehr physisches Instrument zu sein, weil wir beim Spielen den ganzen Körper einsetzen, um die Maschine zu bedienen. Doch gleichzeitig erzeugt der Organist selbst keinen Klang. Er bedient eine Maschine, die es ihm ermöglicht, Klänge zu kombinieren. Es ist weniger ein "sportliches Gewichtheben", vielmehr ist es ein Dialog zwischen Mensch und Maschine, der sehr genau ablaufen muss, wenn man möchte, dass die Maschine das Richtige tut. Ähnlich einem Computer, den man sehr genau bedienen muss, um das gewünschte Ergebnis zu bekommen.

Am anstrengendsten ist der mentale Stress

BR-KLASSIK: Das Orgelspiel ist eine körperliche Aktivität. Wie entspannen Sie nach einem Konzert oder nach einem langen Übetag? Lesen Sie ein Buch oder machen ein bisschen Workout?

Bildquelle: Uwe Niklas Cameron Carpenter: Am anstrengendsten dabei ist tatsächlich der mentale Stress. Diese Beziehung zwischen Mensch und Maschine verlangt eine konstante mentale Leistung und Energie. Im Endeffekt ist es aber keine körperliche Erschöpfung, sondern eine mentale. Nach dem Spielen bin ich körperlich eher energiegeladen und  brauche keine Pause.

BR-KLASSIK: Normalerweise spielt man Orgel in der Kirche. Sie dagegen spielen dort selten und bevorzugen Theater, Konzertsäle oder andere Orte. Wenn Sie trotzdem eine tolle, historische Orgel auf Ihre Wunschliste setzen könnten, welche würden Sie wählen?

Cameron Carpenter: Ich hoffe, ich ruiniere nicht Ihre Frage, aber ich stand vor dieser Entscheidung und fand eine andere Lösung. Es entstand die Idee, eine Orgel zu bauen, die an keinen bestimmten Ort gebunden ist.  Eine Orgel, die das künstlerische und intellektuelle Wissen verschiedenster Orgelbauer bündelt und mit der ich auf Reisen gehen kann. Es gibt zwar ein paar Orgeln, die den Titel "historisch" verdienen, aber das gilt nur für die Instrumente, deren Klang die Menschen bewegt. So gesehen sind andere Orgeln "historischer" als meine Touring-Orgel. Außerdem brauchen die historischen Orgeln ihre Befürworter und Verfechter. Die Orgel, die momentan meine größte Aufmerksamkeit braucht, ist meine Touring-Orgel. Sie macht am meisten und bekommt dafür nur wenig Anerkennung.

Das wichtigste Instrument ist das, welches ich selbst entworfen habe.
Cameron Carpenter

BR-KLASSIK: Sprechen wir über Ihre eigene Orgel, die für Sie entworfen wurde und die Sie mitgestaltet haben. Darauf sind alle möglichen Orgelklänge gespeichert, programmiert und jederzeit abrufbar. Schweben Sie seitdem im Orgelhimmel? Sind Sie sorgenfreier im Hinblick auf logistische Probleme?

Cameron Carpenter: Um Organist zu werden, musste ich viel opfern und viele Kompromisse eingehen. Was ich immer noch lerne zu akzeptieren ist die Tatsache, dass die Orgel das anspruchsvollste Instrument ist. Sie zwingt dich, eine Art soziales Mönchsleben zu führen. Das ist nicht sehr gesellschaftsfähig.  Die Orgel ist ein stationäres Instrument, und das Künstlerleben, das sich daraus entwickelt, ist anders als das von anderen Musikern.
Meine Orgel versetzt mich trotzdem nicht ins Orgelparadies. Das Instrument hat auch seine eigenen Probleme, aber es verändert meiner Meinung nach die Beziehung zwischen Organist und Instrument. Eine Beziehung, die es so noch nicht gab und die erst durch den technischen Fortschritt ermöglicht wurde, der zwar radikal ist, aber auch gleichzeitig der jahrhundertelangen traditionellen Entwicklung des Orgelbaus treu blieb. Das führte in eine digitale Richtung, die bei der klassischen Orgel nicht möglich gewesen wäre. Was nicht bedeutet, dass dieser Weg ohne Verluste und problemlos war. Man zahlt immer seinen Preis.  

Mein Wunsch war es, die größtmögliche Orgel zu bauen.
Cameron Carpenter

Cameron Carpenter: Die Touring-Orgel braucht und benutzt nicht alle möglichen Klänge, obwohl das oft behauptet wird. Es ist eine amerikanische Orgel, mit ausschließlich amerikanischem Orgelklang, angelehnt an die amerikanische Orgelbau-Tradition des frühen  20. Jahrhunderts - meiner Meinung nach dem Höhepunkt des weltweiten Orgelbaus. In Europa werden diese amerikanische Orgeln jedoch selten gespielt. Aber genau so ein Instrument wollte ich entwerfen: eine gewaltige, imposante, symphonische Orgel. Und das habe ich getan.

Konzentrierte Verfeinerung des Systems

BR-KLASSIK: Wie lange hat es gedauert, bis Sie sich mit dem komplexen Instrument angefreundet haben?

Bildquelle: Thomas Grube Cameron Carpenter: Ich habe die Touring-Orgel über zehn Jahre lang konstruiert, somit war mir das Instrument schon lange vor seinem Bau vertraut. Das Schöne an dieser Beziehung ist, dass die Orgel keine Geheimnisse vor mir hat. Wir stimmen perfekt überein. Ich kann auf dieser Orgel Dinge tun, die kein anderer tun könnte, aber das hat nichts mit der Komplexität des Instrumentes zu tun. Dem würde ich sogar widersprechen. Es gibt Instrumente, die weitaus größer und komplexer sind, auch in ihren Anforderungen an den Künstler. Da gibt es zum Beispiel die Domorgel im Passauer Stephansdom. Meine Orgel sieht zwar groß und komplex aus, doch ihr Vorteil liegt in der konzentrierten Verfeinerung des Systems. Ihre Daten sind das Ergebnis einer kritischen Überprüfung vieler großartiger Orgeln, aber auch solcher, die es nicht verdienen, beachtet zu werden. Meiner Meinung nach liegen viele europäische Konzerthallen-Orgeln 50 bis 60 Jahre in ihren Möglichkeiten zurück. Ich habe versucht, eine intelligente Lösung zu finden, und ein Teil der Lösung liegt in einer größeren Einfachheit.

BR-KLASSIK: Cameron Carpenter, Sie sind für Ihren eigenwilligen Zugang zu der Musik berühmt, die Sie spielen. Ihre Interpretationen polarisieren, wirken auf manche im ersten Moment vielleicht sogar verstörend oder erschreckend.
Am 13. Dezember spielen Sie im Münchner Prinzregententheater unter anderem Händel und Poulenc. Wird man die Stücke wiedererkennen oder werden es fast Neukompositionen sein?

Vorurteile sollte man ignorieren

Cameron Carpenter: Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Diese Frage basiert teilweise auf dem Vorurteil einiger Konzertbesucher, ich würde einen Anspruch gegenüber der Musik erheben. Diese Meinung sollte man ignorieren. Es ist schädlich und destruktiv, wenn der Konzertbesucher zu wissen meint, was ihn bei einem Konzert erwartet. Schädlich und destruktiv für ihn und für seine Beziehung zum Künstler. Die Aufgabe eines Künstlers besteht darin, Fragen aufzuwerfen und sie nicht zu beantworten. Wenn es sich herausstellt, dass wir keine Gedankenfreiheit mehr haben, haben wir ein viel größeres Problem.

Die Fragen stellte Annika Täuschel für BR-KLASSIK.

Infos zum Konzert

Dienstag, 13. Dezember 2016, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater

Georg Friedrich Händel:
Orgelkonzert F-Dur, HWV 292
Francis Poulenc:
Konzert für Orgel, Streicher und Pauken

sowie Werke von C. P. E. Bach und Igor Strawinsky

Cameron Carpenter (Orgel)
Kammerorchester des BR-Symphonieorchesters
Radoslaw Szulc (Künstlerischer Leitung)