Was macht die digitale Welt mit unserer Identität? Mit dieser Frage befasst sich die KI-Oper "chasing waterfalls", die am Samstag an der Dresdner Semperoper uraufgeführt wurde. Eine virtuelle Stimme kommt hier erstmals zum Einsatz, für jede Aufführung werden Algorithmen neu generiert. Konnte Künstliche Intelligenz auf der Opernbühne überzeugen?
Es beginnt mit dem Versagen der Gesichtserkennung. Eine Frau möchte sich in ein Netzwerk einwählen, aber das System zweifelt an ihrer Identität. Sicherheitsabfragen führen ein groteskes Eigenleben, erst nach einem Wutanfall gestattet der Algorithmus den Zugang. Dieses "Computer says no" hat wohl jeder schon mal erlebt, der sich in der digitalen Welt bewegt. Plötzlich wird der Protagonistin von "chasing waterfalls" klar, wie abhängig sie von einer undurchschaubaren Welt ist, in der auch die kompliziertesten Sachverhalte in 0 und 1 aufgespalten werden. In der vermeintlich oder tatsächlich intelligente Computer entscheiden, wie wir uns verhalten. Die namenlose Frau wird vom System eingesogen, das "Reale Ich" hat eine Doppelgängerin im "Virtuellen Ich" und begegnet sechs verschiedenen "Ego fluens", mit denen sie sich auseinandersetzen muss.
Die Grenzen zwischen Filmprojektion und Bühnengeschehen, Computergeflimmer und Wasserrauschen verschwimmen auf der Bühne der Dresdner Staatsoper. Sechs Sängerinnen und Sänger und die Artificial Intelligence eines eigens trainierten Computers reagieren aufeinander. Etwa sieben Minuten Musik werden vom Rechner an jedem Aufführungsabend neu getextet, komponiert und gesungen. In der fünften Szene der 70-minütigen Oper übernimmt die Künstliche Intelligenz und räsoniert darüber, ob sie lebt, ob sie ein Bewusstsein hat und was sie unternehmen würde, wenn sie ein Lebewesen wäre.
Dazu hat der Komponist Angus Lee eine Musik komponiert, die von neun Musikern und Musikerinnen im Orchestergraben gespielt und mit elektronischen Klängen des Kollektivs "kling klang klong" ergänzt wird. Erdacht hat sich das ganze Projekt das Künstlerkollektiv phase7 performing.arts Berlin, federführend waren der Regisseur Sven Sören Beyer, der Dramaturg Johann Casimir Eule und Christiane Neudecker. Die Liste der Mitwirkenden hinter den Kulissen ist bedeutend länger und spricht für die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten, dass ein sehr geglücktes Opernexperiment auf die Bühne kam.
Die Sopranistin Eir Inderhaug setzt sich zur Wehr gegen die Algorithmen, mal verzweifelt schneidig, mal charmant lockend. Aber trotz ihres Behauptungswillens bleibt unentschieden, ob es überhaupt ein Entrinnen geben kann. Hate Speech und scheinbarer Erfolg, der in Klicks und Likes gemessen wird, wechseln sich ab und schicken die Protagonistin in Gestalt eines perfekt aufeinander abgestimmten Gesangsquintett in ein Wechselbad der Gefühle. Ihr Trotz und ihr Selbstbehauptungswille sind zum Schluss jedenfalls geweckt.
Sendung: "Allegro" am 5. September 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK