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Christian Thielemann zum 60. Geburtstag Eigensinniger Ausdrucksfanatiker

1988 kam Christian Thielemann als Generalmusikdirektor nach Nürnberg. 1997 kehrte der gebürtige Berliner in seine Heimatstadt als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin zurück, von 2004 bis 2011 hatte er das gleiche Amt bei den Münchner Philharmonikern inne. Seit 2012 ist Thielemann Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, neben seiner Dresdner Chefposition leitet er die Osterfestspiele Salzburg. Am 1. April feierte der Dirigent seinen 60. Geburtstag.

Bildquelle: dpa/Ali Schafler

Christian Thielemann ist ein lustvoller Musiker. Auch wenn er mit der Musik leidet, sich reinwühlt in die Gefühle, bei Wagners Opern etwa und ihren liebeskranken Helden – immer spürt man, dass all die Anspannung, all die Konzentration und Verausgabung für Thielemann zutiefst lustvolle Erfahrungen sind. Und was ihm Spaß macht, lässt er sich nicht vorschreiben. Auch Hans Pfitzner macht Thielemann Spaß, obwohl der Komponist ein ätzender Antisemit war. Wagner und Strauss sowieso. Das ist nicht als politisches Statement gemeint, sondern einfach eine musikalische Vorliebe, betont Thielemann.

Es ist ja ganz erschreckend und furchtbar unintellektuell, aber: Ich dirigiere, weil's mir Spaß macht!
Christian Thielemann

Weltklasse-Dirigent mit Konfliktpotenzial

Christian Thielemann polarisiert wie kaum ein zweiter Weltklasse-Dirigent. Man darf ihm glauben, dass er es nicht darauf absieht. Doch Streit um und mit Thielemann gab es so oft in dieser bemerkenswerten Karriere, dass es kaum Zufall sein kann. Das war schon in Nürnberg so, wo er 1988 seinen ersten Chefposten bekam. Von der Deutschen Oper Berlin ging er ebenso im Streit weg wie von den Münchner Philharmonikern, bei denen es im Oktober 2009 zum großen Knatsch mit dem Orchestervorstand kam. Dresden witterte seine Chance - und machte Thielemann zum Chefdirigenten der Staatskapelle. Die leitet er von 2011 bis heute – nicht ohne Konflikte. Mit Serge Dorny, dem designierten Intendanten der Semperoper, konnte sich Thielemann nicht einigen. Dagegen scheint die Chemie mit dem Orchester, mit dem sein Vertrag verlängert wurde, besser zu stimmen. Hat sich die Dresdner Staatskapelle doch den oft beschworenen sogenannten "deutschen Klang" erhalten – also einen dunklen, satten Sound.

Thielemann und der "deutsche Klang"

Wagner und Strauss liegen Thielemann mehr als Schumann und Mendelssohn. Bei Klassikern und Frühromantikern setzt er gern einen drauf. Die vielen Temposchwankungen klingen dann manchmal weniger nach Thielemanns Lehrer Herbert von Karajan als nach den Dirigenten einer noch weiter zurückliegenden Generation, nach Wilhelm Furtwängler und dessen Subjektivismus. Thielemann ist eben Ausdrucksfanatiker. Und deswegen ist er zuhause bei den Spätromantikern Wagner, Bruckner und Strauss. Hier kann er hemmungslos zaubern. Wenn Thielemann in Bayreuth Wagner dirigiert, dann spricht jede Phrase, jedes Zögern; jede Beschleunigung legt ein Gefühl frei. Was bei anderen Komponisten manieriert wirkt, klingt natürlich, wenn Thielemann Wagner dirigiert.

Es gibt verschiedene deutsche Klänge. Es gibt Schumann und Mendelssohn, Wagner und Strauss sind auch nicht immer deckungsgleich.
Christian Thielemann

Doch Thielemann beherrscht viel mehr als nur die ganz schweren deutschen Schlachtrösser. Auch französische Impressionisten oder zeitgenössische Musik von Wolfgang Rihm dirigiert er mit atemberaubendem Klangsinn. Und nicht nur die Wiener Philharmoniker, die ihn in diesem Jahr sein erstes Neujahskonzert leiten ließen, lieben Thielemann, auch in London, Amsterdam und Israel ist er gerngesehener Gast.

Das Jahr 2015 brachte ihm ausgerechnet in seiner Heimatstadt Berlin eine empfindliche Niederlage: Die Berliner Philharmoniker suchten ihren neuen Chef – und entschieden sich in einem spektakulären Abstimmungsmarathon gegen ihn und für Kirill Petrenko. Die halbe Republik fieberte mit bei diesem Rennen. Dass Petrenko als Sieger durchs Ziel ging, nahm Thielemann zumindest nach außen hin sportlich: "Ich würde immer bei einem Orchester darauf bestehen, ein Stimmungsbild zu haben", sagt der Dirigent. "Wenn sich ein Orchester für jemanden entscheidet, dann ist das a priori richtig. Und eine Mehrheit ist eine Mehrheit."

Der Beschwörer des Grünen Hügels

Wie zum Trost berief Katharina Wagner Thielemann kurz danach zum Musikdirektor der Bayreuther Festspiele. Schließlich kennt er das Festspielhaus mit seiner magisch-komplizierten Akustik wie kaum ein zweiter. Klar, auch am Grünen Hügel ballen sich immer wieder mal dunkle Wolken um Musikdirektor und Festspielchefin. Aber wenn Thielemann dann im sagenumwobenen Orchestergraben, dem "mystischen Abgrund", den Taktstock hebt, dann weiß man wieder, warum sich das alles lohnt, warum er das macht und warum er trotz allen Ecken und Kanten so viele Anhänger hat: Thielemann ist nicht nur technisch ein ausgefuchster Könner, sondern auch ein unglaublich inspirierter Ausdrucksmusiker. Einer, der aus Wagnerschem Liebesleid höchste Lust herauskitzelt. Und das macht nicht ihm hörbar Spaß, sondern auch Klassikfans aus der ganzen Welt.

Sendung: "Allegro" am 1. April 2019, ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK.