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Kritik – Wiener Philharmoniker mit Wagner und Bruckner Ein Fest für Thielemann

Die ganze Welt schaut auf die Salzburger Festspiele – und auf den Mut, mit der verkürzten 100. Ausgabe dem kulturellen Corona-Lockdown zu trotzen. Die Jubiläums-Festspiele sind jetzt in der vierten und letzten Woche, kürzlich ging die dritte Konzert-Serie der Wiener Philharmoniker ging gerade über die Bühne des Großen Festspielhauses. Nach Andris Nelsons und Riccardo Muti stand jetzt Christian Thielemann am Pult. Mit der Vierten Symphonie von Anton Bruckner und den "Wesendonck-Liedern" von Richard Wagner mit Stargast Elīna Garanča ein Fest für Thielemann.

Kritik – Christian Thielemann bei den Salzburger Festspielen: Ein Fest mit Wagner und Bruckner

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Mein personalisiertes E-Ticket wird am Eingang des Großen Festspielhauses vom Personal gescannt, dann muss ich meinen Personalausweis zum Abgleich vorzeigen und meinen Rucksack wie am Flughafen durchwühlen lassen. Innen sitzen tausend Festspielgäste schachbrettartig im Zuschauerraum verteilt. Einziger positiver Nebeneffekt: Man sieht besser auf die Bühne, wo sich die Wiener Philharmoniker in großer Besetzung drängen. Sogar zwei Orchestermitglieder dürfen hier – wie vor Corona – an einem Pult nebeneinandersitzen. Die rigide Salzburger Test-Disziplin scheint sich auszuzahlen.

Der höchste Kunstverein in der Musik

Und die Wiener spielen wie die Götter, lassen ihr helles Blech bei Bruckner machtvoll strahlen, bezaubern mit ihrem warmen Holzbläser-Ton und beeindrucken mit ihrem homogenen Streicherklang. Schließlich können sie auf eine große Bruckner-Tradition bauen. Und für Bruckner waren die Wiener Philharmoniker schlicht "der höchste Kunstverein in der Musik". Die Vierte Symphonie haben sie 1881 unter Hans Richter uraufgeführt – der Beiname "Romantische" stammt in dem Fall sogar vom Komponisten selbst.

Zeremonienmeister Thielemann

In das 70-minütige Riesenwerk kann der mittlerweile 61-jährige Christian Thielemann all seine Bruckner-Erfahrung souverän einbringen. Er dirigiert die Vierte auswendig, hat jedes Detail im Kopf und kann sich ganz den jeweils tonangebenden Stimmgruppen zuwenden. Gekonnt disponiert er Steigerungswellen, staut den Klang vor den monumentalen Eruptionen Bruckners, die dann wie Wellenbrecher in den Saal krachen. Ein Mirakel gelingt ihm im langsamen Satz, der die Tempobezeichnung "Andante quasi Allegretto" trägt, also eher fließend gedacht ist. Den zelebriert Thielemann als Exerzitium der Langsamkeit, kostet jede Note aus, führt das Publikum durch ausgedörrte Klanglandschaften – da muss man durch.

Beim berühmten "Jagd-Scherzo" wachen dann alle wieder auf, so rasant nimmt Thielemann dieses Kabinettstück – und die Wiener Hornisten kitzeln Bruckners Witz brillant heraus. Thielemann vereint Pathos im besten Sinne mit idyllischer Ländler-Seligkeit. Und scheut sich nicht, die bedrohlichen, ja brutalen Züge dieser Musik herauszustellen, die elementaren Urgewalten, die Bruckner entfesselt – von wegen "romantisch". Aber die Romantik kennt ja auch die Nachtseiten des Lebens, die Abgründe und Todesnähe.

Elīna Garanča auf der Höhe ihrer Kunst

Die wiederum spielt auch in Wagners "Wesendonck-Liedern" eine Rolle. Denn diese Lieder nach Gedichten von Wagners Muse Mathilde Wesendonck kreisen um Liebe und Todessehnsucht, um Weltvergessenheit und Erlösung. Und liegen entstehungsgeschichtlich ganz nah an "Tristan und Isolde", zwei der Lieder hat Wagner sogar als "Studien" zu seinem Musikdrama bezeichnet. Der Zyklus atmet den Duft der "Tristan“-Musik – und die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča trifft mit ihrem kostbaren Timbre genau die schwüle Atmosphäre der Lieder. Die 43-Jährige ist mit ihrer flutenden Fülle und gurrenden Tiefe auf der Höhe ihrer Kunst. Und Thielemann ist ganz bei ihr in diesem Zyklus, trägt sie auf Händen, begleitet sie Debussy-haft zart und schwärmerisch aufblühend.

Hinterher sind alle glücklich – die Musikerinnen und Musiker, weil sie endlich wieder spielen dürfen. Das Publikum, weil es solche Highlights wieder live erleben kann. Und die Musikjournalisten, weil sie wieder was zu schreiben haben – und in diesem Fall gutgelaunt an die Arbeit gehen dürften.

Sendung: "Leporello" am 21. August 2020 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK