Hans Zenders Interpretation von Schuberts "Winterreise" gibt es jetzt im Livestream zu erleben: mit dem Ensemble Modern und dem Tenor Julian Prégardien. Der sieht im Stoff des einsamen Wanderers erschreckende Parallelen zur Situation von Künstlern während der Corona-Pandemie. BR-KLASSIK hat mit Julian Prégardien darüber gesprochen.
BR-KLASSIK: Herr Prégardien, Sie singen die "Winterreise" nicht in der Schubertschen Originalversion, sondern in der Bearbeitung von Hans Zender für Orchester. Wenn man Schuberts "Winterreise" hört und liebt, glaubt man erst einmal nicht, dass man diesem Zyklus etwas hinzufügen müsste. Was hat denn Zenders Version für Sie, was Schuberts Fassung nicht hat?
Julian Prégardien: Die "Winterreise", präsentiert in einem Kammermusiksaal von einem Bariton im Frack, der sich vor den Flügel stellt und daran festhält... Das sind Bilder, von denen Hans Zender selber sagt: das ist für ihn nicht Winterreise. Zender ist aus zweierlei Hinsicht an dieses Stück herangegangen: Um es neu erlebbar zu machen und auch als so eine Art Studiostück. Er hat es ganz gezielt fürs Ensemble Modern geschrieben und verschiedene Spieltechniken der zeitgenössischen Musik angewandt. Es ist also auf der einen Seite so ein bisschen die ironische Betrachtung dieser Liederabendform, und auf der anderen aber auch ganz klar ein Experiment: Was kann man aus so einer sehr reduzierten Partitur – Gesangsstimme und Klavier – alles herauskitzeln? Nicht nur kompositorisch, sondern auch illustrativ, mit ganz verschiedenen Herangehensweisen und Deutungsweisen.
Natürlich hat es etwas Banales, aber auch etwas Provokant-Kreatives.
BR-KLASSIK: Es ist fast eine Art Oper für eine Person. Man denkt immer, jetzt kommen gleich noch ein paar andere Figuren auf die Bühne.
Julian Prégardien: Man verwehrt sich als Interpret von so einem Schubert-Lied ja doch meistens davor, zu illustrativ zu sein. Aber Hans Zender macht das ganz provokant. Wenn beim "Stürmischen Morgen" vom Wind die Rede ist, dann ist die Windmaschine da. Und wenn der Wanderer sagt, "wie hat der Sturm zerrissen", dann zerreißt Hans Zender sämtliche Taktarten und den Text, und gibt es nur noch bruchstückhaft wieder. Eleonore Büning, die bekannte Musikredakteurin, hat nach der Uraufführung einen Bericht darüber verfasst. Und sie schreibt, es sei doch fatal banal, Schubert so zu deuten. Das finde ich ganz interessant. Natürlich hat es etwas Banales und Naives, aber es hat auch etwas total Provokant-Kreatives. Und diese Spange, die hat der Zender.
BR-KLASSIK: Sie haben das Experiment angesprochen... Passt von daher diese Aufführungsform per Live-Stream ohne Publikum im Saal vielleicht ganz gut dazu? Es scheint jedenfalls mehr zu sein als eine Ersatzlösung. Vielleicht eine Art Labor?
BR-KLASSIK: Ist die "Winterreise" für Sie im Moment auch ein bisschen die Musik der Stunde in diesem Winter?
Julian Prégardien: Die "Winterreise" sagt vor allem: Achtung, Vorsicht, da ist jemand, der sich in sich selbst zurückzieht und in sich selbst versucht, Lösungen für alles zu finden. Und wir – oder viele von uns – sind ja leider dazu verdammt worden, uns um uns selbst zu kümmern. Der Staat hat sich leider als nicht fähig erwiesen, selbständigen Künstlern genügend zu helfen. Ich bin froh, dass ich das jetzt sagen darf. Ich habe mir selbst das Versprechen abgenommen, das zu betonen, wann immer ich die Chance dazu bekomme. Es wird sehr viel darüber geredet, wie toll Künstlern und Selbständigen doch geholfen wird. Was aber im Endeffekt ankommt, ist in den meisten Fällen leider ein Witz. Und die "Winterreise" ist ein Stück, das sehr viel über das Verhältnis eines Individuums zur Gesellschaft spricht. Wie ich finde, sogar vielmehr als dass es eine Geschichte ist über einen enttäuschten Liebhaber. Es ist der Einzelne in der Gesellschaft. Und der wendet sich von der Gesellschaft ab, weil er enttäuscht wurde.
Der Staat hat sich leider als nicht fähig erwiesen, selbständigen Künstlern genügend zu helfen.
Ich habe in letzter Zeit recht häufig das Gefühl gehabt, dass ich mich von dieser Politik abwenden möchte. Ich sehe nicht ein, warum ein reicher Staat wie Deutschland es nicht gebacken kriegt – wie andere europäische Nachbarländer – Künstlern, Kreativen und überhaupt Selbständigen unkompliziert zu helfen. In Belgien zum Beispiel ging das im März gleich los mit Sofortzahlungen von, ich glaube, 1.200 Euro. Und ab Oktober waren es Sofortzahlungen von 2.500 Euro, die jeder als selbständig Registrierter vom Staat bekommen hat. Und ich glaube nicht, dass Belgien ein Land ist, was über mehr finanzielle Ressourcen verfügt als Deutschland. Das zeigt einfach, dass eine deutsche Kulturpolitik anscheinend keine Ahnung davon hat, wie die Lebensrealität von selbständigen Künstlern und Musikern aussieht. Deswegen zeigt die "Winterreise" nicht nur einen verletzten Menschen, sondern auch einen wütenden Menschen – und einen enttäuschten. Ich möchte auf keinen Fall zum Winterreisenden werden.
Sendung: "Leporello" am 6. Februar 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK