Viele Kulturveranstaltungen sind derzeit nicht ausverkauft, Veranstalter klagen über fehlendes Publikum. Entwöhnen wir uns gerade vom Live-Konzert? Keineswegs, meint die Musiksoziologin Sarah Chaker. Denn die Ursache für leere Konzertsäle sei gar nicht die Pandemie.
2G-Regel, Schnelltest vor dem Konzert, Maskenpflicht am Platz, keine Pause: Wer derzeit Musik live erleben will, muss einiges auf sich nehmen. Dazu kommt für viele die Frage: Wie sicher ist es gerade, eine Kulturveranstaltung zu besuchen? Dass sich diese Faktoren auf das Publikumsverhalten auswirken, kann die Musiksoziologin Sarah Chaker gut nachvollziehen: "Menschen überlegen sich sehr genau, welches Risiko sie bereit sind, einzugehen. In der klassischen Musik umfasst das Publikum außerdem viele Menschen im 'besten Alter', die ein hohes Risiko haben, an Corona zu erkranken."
Dass diese Zurückhaltung mittel- und langfristig so bleibt, kann sich Sarah Chaker aber nicht vorstellen. "Im Moment überwiegt noch die Angst, aber die Sehnsucht nach physischen Treffen ist nach wie vor stark", meint sie im Gespräch mit BR-KLASSIK. Die Musiksoziologin verweist auf eine Befragung, die sie mit ihren Studierenden am Institut für Musiksoziologie der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien durchgeführt hat. Dabei ging es um das Konzertverhalten vor und während der Corona-Pandemie. Fast alle Befragten waren der Auffassung, dass Online-Konzerte die Live-Konzerte nicht verdrängen können. "Live-Konzerte wurden von 97% der Befragten als besondere, außer-alltägliche Erlebnisse wahrgenommen", erklärt Sarah Chaker. "Online-Konzerte können das anscheinend nicht liefern."
Daraus schließt die Wissenschaftlerin, dass der Durst nach Live-Veranstaltungen nach wie vor groß ist. Und es auch nach der Pandemie sein wird. Die Sorge vieler Veranstalter oder Künstler wie Christian Gerhaher, das Publikum könne sich während der Corona-Krise von Live-Kultur entwöhnen, teilt sie also nicht. "Den Publikumsschwund bei der klassischen Musik beobachten wir schon seit einiger Zeit, nicht erst seit Corona. Diese Entwicklung hat andere Ursachen, Corona wirkt allenfalls als Beschleuniger", so Sarah Chaker. Wichtig seien daher Initiativen, die hier gegensteuern, etwa zur Musikvermittung.
Sendung: "Leporello" am 2. Dezember 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK