Er ist wohl der größte Star unter den jungen Pianisten: der 29-jährige Russe Daniil Trifonov. Berühmt wurde er mit dem Standard-Repertoire, mit dem junge Pianisten nun mal berühmt werden: Chopin, Tschaikowsky, Rachmaninow. Doch Daniil Trifonov ist neugierig – schließlich ist er Sohn eines Komponisten und er komponiert selbst. Vor zwei Jahren hat er ein ungewöhnliches Programm zusammengestellt: "Decades". Ausschließlich Musik des 20. Jahrhunderts. Am Freitag hat Trifonov dieses Programm bei den Salzburger Festspielen gespielt.
Der da vorne sitzt, steht unter Strom. Daniil Trifonov liebt den musikalischen Extremzustand. Wenn er außer sich ist, ist er ganz bei sich. Seine Reise durch die Musik des 20. Jahrhunderts ist ein Trip, eine Tour de Force. "Decades" heißt sein Programm, für jedes Jahrzehnt hat er ein Werk ausgesucht. Aber nicht etwa aus der Komfortzone der Spätromantik oder des Impressionismus. Trifonov interessieren die Entdecker, die Mutigen. Die die steilen, ausgesetzten Pfade als erste gegangen sind – da, wo man trittsicher und vor allem schwindelfrei sein muss. Berg, Prokofjew, Bartók, Ligeti, Stockhausen: Der Klettersteig der Avantgarde. Gefordert ist extreme Konzentration. Und ja, es gibt gelegentlich auch Ödland zu durchqueren, Durststrecken, die aber das Vergnügen nicht mindern. Um aus den gewohnten Regionen herauszukommen, gehört das einfach dazu. Und es lohnt sich: Die Aussicht hier oben ist atemberaubend, das Adrenalin setzt Glückshormone frei, die Horizonte öffnen sich.
Mit der hyperromantischen, hypernervösen Klaviersonate von Alban Berg geht es los – hitzige, exaltierte Musik, die zugleich unglaublich dicht gearbeitet ist. Dann das wohl abgefahrenste Klavierwerk von Sergej Prokofjew: "Sarkasmen". In der russischen Klaviermusik löste dieser Zyklus 1914 einen Schock aus. Böse, bizarr, krass ist diese Klangwelt. Genauso hart, aber viel konzentrierter ist Béla Bartóks Suite "Im Freien". "Klänge der Nacht" heißt der schönste Satz daraus, eine magische Naturbeschwörung. Trifonov spielt das alles mit einer irrwitzigen Virtuosität, und er zeigt dabei, wie sehr sich der Sinn des Virtuosentums im 20. Jahrhundert gegenüber dem 19. Jahrhundert gewandelt hat: Hier geht es nicht mehr um Show, nicht um die letztlich immer auch ein wenig sportliche Demonstration technischer Überlegenheit. Sondern um eine psychologische Erfahrung: um den Extremzustand als emotionales Erlebnis.
Aus dem Tastenlöwen, den man für sein Können bewundert, wird ein Beschwörer, der einen mitnimmt auf seine bewusstseinserweiternden Entdeckungsreisen. Dabei gönnt Trifonov dem streckenweise etwas unruhigen Festspielpublikum nur eine einzige Verschnaufpause: Nach dem hymnischen Klavierstück "Der Kuss des Jesuskinds" aus den "Vingt Regards sur l'Enfant-Jésus" von Olivier Messiaen darf endlich einmal geklatscht werden. Trifonov geht kurz raus – und macht sofort weiter mit Ligeti und Stockhausen. Um dann den fast zweistündigen Abend überraschend ruhig ausklingen zu lassen mit zwei Meisterwerken der amerikanischen Minimal Music von John Adams und John Corigliano.
Ein Klavierabend, der beweist, dass Trifonov auf einsamer Höhe steht: Technische Probleme gibt es nicht, dieser Mann spielt wahnsinnig gut Klavier. Farben, Strukturen, Verläufe, Nuancen: alles da. Souverän ist dafür gar kein Ausdruck. Denn Trifonov riskiert ja auch, ständig, er braucht das Risiko. Und hat zugleich einen weiten Horizont, durchdringt diese Musik geistig und emotional. Und schließlich auch eine magnetische Ausstrahlung: Wenn er geduckt am Flügel sitzt, sich windet, fast aufspringt, hat das nichts Manieriertes – sondern es wirkt absolut glaubwürdig. Dieser Mann steht unter Strom. Und den kann er übertragen: das Publikum jubelt.
Sendung: "Piazza" am 29. August 2020 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK