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Kritik - Schnitzlers "Der Reigen" Wir machen uns alle nackt

Kaum ein Dramatiker konnte das tragikomische Liebesleben so entlarvend auf die Bühne bringen wie Arthur Schnitzler. Das Theater an der Rott brachte seinen "Reigen" jetzt als heiter-morbides Musical heraus - in einer eigens gebauten Rotlicht-Bar.

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Für ihre Sünden ist die niederbayerische Kleinstadt Eggenfelden, knapp 15.000 Einwohner, bisher nicht bekannt. Doch jetzt gibt es dort ein schummriges Rotlicht-Lokal, das jede Anreise lohnt. Bombastische Brokattapeten an der Wand, ein Kristalllüster an der Decke, Samtvorhänge in jede Richtung, ein eleganter Konzertflügel, eine verheißungsvolle Discokugel: Das Publikum nimmt an Bistrotischen Platz, auf denen merkwürdige Lichter stehen, die offenbar ferngesteuert werden. Für knapp bemessene 4.000 Euro hat sich das Theater an der Rott auf seiner Studiobühne dieses Belle Époque-Etablissement einfallen lassen.

Paare sind befriedigt, aber unzufrieden

Szenenbild "Der Reigen", Theater an der Rott | Bildquelle: Sebastian Hoffmann/Theater an der Rott Ausstatter Gerrit von Mettingen hat da eine wirklich kuschelige Absteige entworfen für die Uraufführung von Arthur Schnitzlers Erotik-Satire und Totentanz "Der Reigen" in einer Zwei-Personen-Musicalfassung. Bekanntlich geht es bei Schnitzler darum, dass sich Menschen ausziehen, körperlich, vor allem aber seelisch. Zehn Paare finden sich im "Reigen", und gehen befriedigt, aber unzufrieden wieder auseinander. Wer das widersinnig findet, war wahrscheinlich noch nie in einem Nachtclub. Der gebürtige Australier Dean Wilmington, lange Zeit Musical-Ausbilder an der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München, hat daraus einen rund 80-minütigen Abend mit verwegenen Jazz- und Latin-Rhythmen gezaubert, und einen "Orgasmus-Song", den gibt's, na klar, als "Höhepunkt" oben drauf. Wie das eben so ist, wenn die Frau an den nächsten Friseurtermin oder Schuhkauf denkt, während sich der Mann auf ihr abrackert.

Nackte Gefühle statt nackter Haut

Szenenbild "Der Reigen", Theater an der Rott | Bildquelle: Sebastian Hoffmann/Theater an der Rott Regisseur und Intendant Uwe Lohr inszeniert das tatsächlich im Takt eines handelsüblichen Beischlafs. Es geht langsam los und steigert sich zum Vergnügen des Publikums ins total Überdrehte. Wie bei Arthur Schnitzler vorgesehen, ist wenig nackte Haut zu sehen, dafür aber viele nackte Gefühle. Carolin Waltsgott und Markus Krenek spielen jeweils fünf einsame Menschen auf der Jagd nach Anerkennung, die aber nichts erreichen, außer den Barpianisten zu langweilen: Arbeiten Sie schon lange hier? Kennen Sie den und den Song aus den Charts? Die beiden gurren und keifen, zwitschern und betteln, toben und poppen - nur weinen und lieben, das können sie nicht, weil sie sich selbst im Weg stehen. Eine großartige und fesselnde Leistung mit viel Slapstick, akrobatischen Tanzeinlagen, die Choreograph Daniel Morales-Pérez beigesteuert hat, und rasanten Kostüm- und Frisurwechseln.

Eggenfeldener "Tempel der Wollust"

So auf die Bühne gebracht, hat Arthur Schnitzlers betagtes Stück aus dem Jahr 1903 nichts Schwülstiges und Muffiges. Den Zuschauern werden erfrischende Weine und knusprige Erdnüsse serviert - und ganz tiefe Einsichten in das zwischenmenschliche Triebleben, zum Beispiel, das letztlich niemand Interesse an der Wahrheit hat, jedenfalls nicht in diesem herrlich swingenden und flackernden Eggenfeldener "Tempel der Wollust". An der Bar gibt's Getränke, die sich selbst entzünden, auf den Nebenbühnen wahlweise Männerstrip oder Erotik-Massage - hört sich verlockend an? Dann kennen Sie Schnitzler nicht! Begeisterter Beifall des überwiegend weiblichen Publikums.

Mehr Infos und Termine bei theater-an-der-rott.de

Sendung: "Allegro" am 19. November 2018, 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK