Andante, Adagio oder gar Presto? Was ist ein Tempo, das den Deutschen entspricht? Eine Frage, die Sie vermutlich noch nie gestellt haben. Andere schon, und die Antworten werden Sie sicherlich überraschen.
Das deutsche Tempo sei "der Gang", sagte Richard Wagner. Damit meint er das gehende Tempo, also das Andante. Keine dumme Entscheidung, denn, so Wagner weiter: "Mit diesem gelassenen Gange erreicht der Deutsche mit der Zeit Alles." Das Wort "Alles", wohlgemerkt, großgeschrieben. Nicht schlecht: das Andante als deutsches Musik- und Lebensprinzip – scheint sich zu lohnen. Behauptet jedenfalls Wagner in seinem Aufsatz "Deutsche Kunst und Deutsche Politik" von 1868, kurz nach der Uraufführung der "Meistersinger".
Das deutsche Tempo ist der Gang, das Andante, welches deshalb auch in der deutschen Musik sich so mannigfaltig und ausdrucksvoll entwickelt hat.
Deutsche Musik ist also ihrem Wesen nach mittelschnell? Falsch! Sagt Julius Langbehn, der Erfolgsautor der vorletzten Jahrhundertwende. Sein Spitzname war "der Rembrandtdeutsche", sein Bestseller hieß nämlich "Rembrandt als Erzieher". Dieser kulturkritische Schmöker verkaufte sich blendend und war eine Art Manifest der Deutschen Leitkultur Anno 1890. Ein Sensationserfolg, 39 Auflagen in zwei Jahren. Geistiges Labsal für Konservative im Kaiserreich. Und wie definiert Langbehn das Deutsche Tempo? Er schreibt: "Wagner hat richtig bemerkt, dass das Adagio 'die Grundlage aller musikalischen Zeitbestimmung' sei; und insofern die Deutschen das musikalischste aller Völker sind, darf man es das speziell deutsche Musiktempo nennen."
"Was ist wohl deutscher als ein Adagio von Beethoven?", so Julius Langbehn in "Rembrandt als Erzieher". Gute Frage, nur hatte das dummerweise Wagner völlig anders gesehen. Wir erinnern uns: Der war in Wirklichkeit Andante-Fan. Es kommt noch schlimmer für den guten Langbehn: Ausgerechnet Beethoven – und der ist oberste Instanz – war entgegengesetzter Meinung. Beethoven schrieb immer nur über schnelle Sätze das Wort "deutsch". Allerdings nicht auf Deutsch, sondern auf Italienisch. Zweimal kommt es als Satzbezeichnung vor. Im späten Quartett op. 130 gibt es eine wunderbar swingende "Danza Tedesca", also einen Deutschen Tanz (nicht etwa einen Deutschen Gang, lieber Herr Wagner). Der Deutsche Tanz, auch kurz: der "Deutsche" genannt, war ein Vorgänger des Wiener Walzers. Beethovens "Danza Tedesca" soll Allegro assai gespielt werden, also richtig schnell. In der Klaviersonate op. 79 legt Beethoven sogar noch einen Zahn zu, da gibt es ein "Presto alla tedesca".
Beethovens "Deutsche" sind ziemlich rasant. Konservative Interpreten haben sich dafür nie interessiert. Die folgten eher der Ideologie von Julius Langbehn. Als besonders "deutsch" galten die Hohepriester des Adagio wie der Dirigent Wilhelm Furtwängler, der Mysterien der Langsamkeit zelebrierte – was, zugegeben, künstlerisch ziemlich aufregend und immer noch absolut hörenswert ist. Aber auch mittelmäßige Musiker wie die Pianistin Elly Ney, die Beethoven in Zeitlupe darbot, dafür mit Gipsbüste auf dem Flügel, galten als irgendwie besonders deutsch. Hätten sie bloß mal die Metronomzahlen gelesen! Beethoven konnte es nämlich gar nicht schnell genug gehen. Haydn war damit völlig d‘accord: In seinem Es-Dur-Klaviertrio gibt es eine "Allemande", und die ist sogar mit Presto assai überschrieben. Im Barock war die Allemande sowieso tempomäßig flexibel. Der Hauptsatz: ein gemächliches Schreiten im Zweiertakt, der Nachsatz: ein flotter Dreier. Scheint also, dass der Deutsche an sich, anders als Wagner behauptet, in ziemlich unterschiedlichen Tempi unterwegs ist. Mal gelassen gehend, mal ausgelassen tanzend. Nicht im Gleichschritt, sondern jeder, wie er mag.
Und was lernen wir aus dieser kleinen Abschweifung in die Musikgeschichte? Ganzen Nationen irgendwelche Eigenschaften andichten zu wollen, ist Blödsinn. "Die Deutsche Musik" gibt es nicht – jedenfalls nicht im Singular.
Sendung: "Allegro" am 28. August 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK