Mutig startet das neue Leitungsteam der Bayerischen Staatsoper: Für seine erste Premiere als Generalmusikdirektor hat sich Vladimir Jurowski "Die Nase" von Dmitrij Schostakowitsch ausgesucht, ein selten gespieltes Frühwerk. Inszeniert hat die wilde Operngroteske der Regisseur Kirill Serebrennikov, der von der russischen Regierung verfolgt wird. BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff saß im Publikum.
Normal ist was anderes. Platon Kusmitsch Kovaljov fehlen ein paar Nasen. Er hat nur noch eine einzige. Eine – das ist so gut wie keine. Alle anderen haben nämlich vier oder fünf. Kovaljov dagegen sieht aus wie ein Mensch. Also völlig unmöglich. In Kirill Serebrennikovs Inszenierung dreht sich das Verhältnis von normal und unnormal.
Eigentlich erzählt Schostakowitschs geniale Operngroteske von einem kleinen Beamten, der eines Tages keine Nase mehr hat. Die läuft jetzt als Staatsrat durch Sankt Petersburg. Und das ist dem nasenlosen Kovaljov ganz furchtbar peinlich. In einer kafkaesken Albtraumsequenz versucht er verzweifelt, seine herumstolzierende Nase wieder dahin zu kriegen, wo sie bei normalen Leuten hingehört: ins Gesicht. Regisseur Serebrennikov dreht diese Idee eins weiter: In seiner Inszenierung tragen alle Figuren hässliche Gesichtsmasken, die mit ganz vielen Nasen übersät sind – nur der unglückliche Kovaljov zeigt sein menschliches Gesicht. Und das ist ihm ganz furchtbar peinlich, denn so kann man doch nicht rumlaufen, mit nur einer einzigen Nase – wo doch alle anderen vier Nasen haben oder fünf.
Was ist normal und was nicht? Ist es normal, menschlich zu sein, wenn alle unmenschlich sind? Die russische Regierung hat jedenfalls sehr klare Vorstellungen von Normalität. Der in Ungnade gefallene Regisseur Kirill Serebrennikov hat das wiederholt zu spüren bekommen. Es ist die fast schon klassische Konfrontation von Kunst und Macht. Und die dreht sich um die Frage, ob die Kunst die offizielle Definition von Normalität in Frage stellen darf. Nach München reisen durfte Serebrennikov jedenfalls nicht, also wurde teils in Moskau geprobt, teils per Videoschalte.
Dabei trifft die szenische Grundidee die Intention von Schostakowitsch auch jenseits aktueller Bezüge: Solange die Hauptfigur anders ist als die anderen, ist sie die einzige, die inmitten all der grotesken Klänge ausdrucksvoll singen darf. Auch bei Serebrennikow ist die Hauptfigur, solange sie nicht der Norm entspricht, die einzig menschliche. Doch leider ist die Personenführung eher grob gestrickt. Und so gibt es neben bösen und stimmigen Bildern auch Durststrecken und szenische Hänger. Wirklich detailliert durchgearbeitet wirkt diese Inszenierung nicht – was sicher auch an der schwierigen Probensituation liegt.
Im tristen Bühnensetting leuchtet die Musik umso stärker. Der 21-jährige Schostakowitsch hat eine krasse und temporeiche Partitur voller verblüffender Klangerfindungen geschrieben. Eine ziemlich eigenwillige Kreuzung aus Slapstick und Avantgarde. Aus dem starken Ensemble ragt die fabelhafte Laura Aikin heraus und natürlich Boris Pinchasovich als Kovaljov. Er kann eindrucksvoll fluchen und winseln, er kann aber auch wunderbar warm und berührend sein Leid klagen. Währenddessen ächzt und fiepst und grummelt es im Orchestergraben – da gibt es singende Sägen und graziöse Soli des Kontrafagotts, vertrackte Schlagzeug-Ensembles, entgleisende Fugen, Zirkusmusik und orthodoxe Choräle. Dieser wilde Ritt wird lustvoll entfesselt und präzise koordiniert von Vladimir Jurowski. Beide, Schostakowitsch, das freche Junggenie, und Jurowski, der dessen frühes Meisterwerk endlich an die Bayerische Staatsoper bringt, sind hinreißend gut. Ein starkes Statement zum Auftakt.
Sendung: "Allegro" am 25. Oktober 2021 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK