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Premiere von "Die Nase" an der Bayerischen Staatsoper Es kann jeden treffen

Selten steht in einer Oper ein Körperteil im Vordergrund. Bei "Die Nase" von Dmitri Schostakowitsch ist es scheinbar so. Der Beamte Kowaljow wacht eines morgens auf und stellt fest, dass sein Friseur ihm beim Rasieren die Nase abgeschnitten hat. Verzweifelt sucht er sie, wird dabei verspottet und muss feststellen, dass seine Nase sich als großer Herr ausgibt und in St. Petersburg spazieren geht. Erstmalig wird "Die Nase" am kommenden Sonntag an der Bayerischen Staatsoper zu sehen sein.

Bildquelle: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Am Dirigentenpult steht Vladimir Jurowski. Die Regie liegt bei Kirill Serebrennikow, der von Russland aus via Live-Videoschalten und mit Hilfe von Assistenten inszenieren musste, da er aus politischen Gründen nicht reisen darf. Für seine Arbeit spielt die Nase als Körperteil jedoch inhaltlich nicht die zentrale Rolle. "Wir haben tausende Nasen, wir haben Gesichter, die über und über damit bedeckt sind", beschreibt Serebrennikow seine Ideen. "Ich wollte damit zeigen, dass es nicht darum geht, dass Kowaljows Nase weg ist. Für ihn ist es wie der Verlust seines kompletten Menschseins, wie er es gewohnt war". Das sei wie bei jemandem, der einschläft und dann wieder die Augen aufschlage und sich fragt: "Was ist denn? Mein Gott, was ist denn da passiert?"

Figuren mit keiner Nase, Figuren mit zu vielen Nasen

Dabei geht es laut Serebrennikow um vielleicht eine "Sekunde der Angst", die zum Albtraum für den "mittelmäßigen Durchschnittsmenschen" werde. Und er habe in die Inszenierung tatsächlich Figuren ohne Nase eingebaut. Als Gegensatz dazu gibt es dann auch Figuren, die überall Nasen haben, also "wirklich ein multi-nasales Werk".

Kirill Serebrennikow sieht seine Inszenierung als eine Art Skizze, als Collage. Realistische Bilder aus dem heutigen Russland werden so verrückt mit anderen Elementen kombiniert, dass sie aufhören, real zu sein. Sondern surreal werden. Auf der Bühne dominieren Düsternis und Kälte, vor allem auch soziale, im verschneiten St. Petersburg. Die vielnasige Mehrheit unterdrückt die normal aussehende Minderheit, der Kowaljow urplötzlich angehört. Eine Geschichte über Entfremdung und Identitätssuche, ähnlich Kafkas "Verwandlung".

Eine brandaktuelle Thematik

Der russische Bariton Boris Pinkhasovich hier als Kowaljow in "Die Nase" an der Bayerischen Staatsoper. | Bildquelle: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper Der russische Bariton Boris Pinkhasovich singt dabei den Kowaljow. Die Thematik der Oper findet er brandaktuell. "Für mich stellt Kowaljow jenes problematische Russland dar, das im Bewusstsein der Menschen verankert ist und als Problem offenkundig wird", erklärt er. Das seien Menschen, die mit Macht ausgestattet sind, mit reichlich Orden und Abzeichen und deshalb leicht glaubten, Herr der Gedanken und Taten anderer Menschen zu sein. "Ich bin der Ansicht, dass man mit solchen Leuten nur Mitleid empfinden kann." 

Für Dirigent Vladimir Jurowski ist "Die Nase" eines der wichtigsten musiktheatralischen Werke des 20. Jahrhunderts. Und die Inszenierung ist für ihn besonders zentral. Ohne Deutung der Regie laufe das Stück ins Leere. Auch wenn die Musik dieses Frühwerks für ihn eine erstaunliche Qualität hat: "Was mich wirklich frappiert, beim Kontakt mit diesem Werk, ist wie unglaublich sicher und bewusst er ist", erklärt der Generalmusikdirektor. Die Kunstmittel, die Schostakowitsch nutzt, faszinieren Jurowski besonders: "Das Urbane, dass scheinbar Chaotische, das Jazzartige. Die lyrische romantische Seite, die westliche Moderne, also eigentlich unglaublich reif für einen, der nur 22 Jahre alt ist." Zudem sei Schostakowitsch dann natürlich auch noch frech, hochnäsig und laut und all das, was man von einem jungen Menschen erwartet.

Serebrennikows dystopische Sicht verwundert nicht

Serebrennikow sieht "Die Nase" als Dystopie. Was bei seinem Schicksal als politisch Verfolgter nicht verwundern kann. Er will zeigen, dass man in einer ungerechten Gesellschaft unmöglich ein anständiger Mensch bleiben kann, ohne zum Außenseiter zu werden. Eine Gesellschaft, die für "normale", integre, humane Menschen keinen Platz hat.

Diese Sichtweise fasziniert auch Vladimir Jurowski. Denn die Thematik geht uns alle an: "Wir halten uns meistens für normale und gesunde Menschen. Aber wenn man mit der Kunst von Beckett, von Ionesco oder auch von Gogol oder eben dieser Oper von Schostakowitsch konfrontiert wird, dann denkt man, es ist eigentlich ein ganz kleiner Schritt, der die Normalität vom Wahnsinn trennt. Und es löst auch eine gewisse Unruhe in einem aus, auch eine Faszination, weil es könnte jeden von uns treffen, jeden Moment."

Sendung: "Leporello" am 22. Oktober 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK.