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Dirigent Thomas Sanderling zum Ukraine-Krieg Unschuldige Künstler nicht zur Verantwortung ziehen

Thomas Sanderling war bis vor Kurzem Chefdirigent des Symphonieorchesters in seiner Geburtsstadt Novosibirsk. Den Einmarsch der russischen Truppen und das Vorgehen Putins verurteilt er aufs Schärfste – und hat nun Konsequenzen gezogen.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

BR-KLASSIK: Herr Sanderling, Sie sind aus Protest gegen den russischen Krieg gegen die Ukraine als Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Philharmonischen Orchesters Nowosibirsk zurückgetreten. Was sagt eigentlich Ihr Orchester dazu? Fühlt sich das nicht im Stich gelassen?

Thomas Sanderling: Es haben sich ein paar Musiker bei mir gemeldet – mit dem Ausdruck des Verständnisses und auch einer Traurigkeit, dass wir in der nächsten Zeit nicht mehr zusammen musizieren werden. Und wer weiß, ob überhaupt und wann?

BR-KLASSIK: Ich nehme an, die Entscheidung, in Novosibirsk zu kündigen, ist Ihnen nicht leichtgefallen. Sie sind ja mit Russland und mit Novosibirsk sehr eng verbunden.

Thomas Sanderling: Völlig richtig. Ich bin in Novosibirsk geboren. Die Entscheidung ist in mir letztendlich vergangene Woche in Tallinn gereift. Dort hatte ich ein reines Schostakowitsch-Programm dirigiert.

Ich habe gespürt, dass ich nicht mehr warten kann.
Dirigent Thomas Sanderling

BR-KLASSIK: Und was genau war der Auslöser?

Thomas Sanderling: Das war ein gewisser Prozess. In meinem Hotel hatte ich auf Euronews zunächst die Meldung von der Invasion gesehen, dann ständig die Bombardements auf ukrainische Städte, dann die hohe und anwachsende Flüchtlingszahl – was alles furchtbar ist. Noch Anfang Oktober war ich mit dem Deutschen Sinfonieorchester in Kiew. Können Sie sich das vorstellen? Dort haben wir Babij Yar, Schostakowitschs 13. Symphonie, gespielt. Wir waren am Ort dieses Massakers. Und letzte Woche habe ich in Tallinn erfahren, dass eine Bombe auf die Gedenkstätte gefallen ist. Das spielte in mir dann auch eine emotionale Rolle, so dass ich gespürt habe, ich kann nicht mehr warten.

Schweigezwang vs. Bekenntniszwang

BR-KLASSIK: Der Chefdirigent des Bolschoi-Theaters, Tugan Sokhiev, der auch Chefdirigent in Toulouse war, hat jetzt beide Ämter niedergelegt, weil er – wie er sagt – keine Entscheidung zwischen Ost und West treffen will. Er hat von einem doppelten Zwang gesprochen: einem Schweigezwang in Russland und einem Bekenntniszwang im Westen. Können sie seine Entscheidung verstehen?

Thomas Sanderling: Ich kenne Tugan und habe sein Statement gelesen. Ich verstehe einerseits, dass man eine Stellungnahme erwartet, auch wie jetzt in München bei Gergiev. Andererseits hat auf mich niemand Druck ausgeübt. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Insofern meine ich, dass das schon individuelle Entscheidungen sein sollten.

BR-KLASSIK: Dann finden Sie es auch nicht richtig, dass man jetzt russischen Künstlern im westlichen Ausland so etwas wie ein Bekenntnis abverlangt?

Thomas Sanderling: Beim Klavierwettbewerb in Dublin hat man allen russischen Kandidaten abgesagt. Und in Montreal hat der russische Pianisten Alexander Malofeev sein Engagement verloren. Ich finde das nicht richtig – auch auf meine Stellungnahmen bezogen. Denn auch bei klarer Ablehnung soll es nicht dazu führen, dass man unschuldige Menschen, in diesem Falle Künstler, in die Verantwortung für das Geschehene miteinbezieht.

BR-KLASSIK: Das heißt, sie fürchten so etwas wie eine pauschale "Russophobie"?

Thomas Sanderling: Teilweise ja, obwohl ich nicht glaube, dass diese "Russophobie" allerorts stattfindet. Aber wenn eben doch, dann finde ich das nicht richtig. Denn darunter könnten sehr wohl Leute sein, die ja diese Ereignisse genauso sehen wie ich oder die eine innerlich ablehnende Haltung dazu haben.

Sendung: "Leporello" am 9. März 2022 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK