Angeblich wäre die Welt besser, wenn die Gesellschaft nur wie ein Orchester wäre. Alle hören aufeinander und vorne steht ein Motivator, der begeistert. Oder stimmt das gar nicht? Sind Dirigenten in Wahrheit finstere Diktatoren? Über kaum einen Beruf sind so viele Legenden im Umlauf.
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"Die Zeit der Pulttyrannen ist vorbei." Diesen Satz höre ich regelmäßig. Und zwar seit ich begonnen habe, als Musikjournalist zu arbeiten. Ja früher, heißt es dann, da seien Dirigenten manchmal richtig eklig geworden. Der Toscanini, der sei ja förmlich ausgerastet. Wutentbrannt habe der mit der Partitur nach den Musiker*innen geschmissen. Aber, und dann fällt er todsicher, der Satz: Die Zeit der Pulttyrannen, die ist ja gottseidank vorbei.
Gehört habe ich das von allen möglichen Dirigenten. Von freundlichen, aggressiven, verletzlichen, arroganten, charismatischen und trockenen. Und natürlich sagen sowas auch diejenigen, die gelegentlich selbst tyrannisch werden. Wenn auch nicht so wie Toscanini. Es stimmt ja: Wutanfälle sind längst nicht mehr an der Tagesordnung. Gut, da war vor wenigen Jahren die Sache mit Daniel Barenboim. Als der mit Vorwürfen konfrontiert wurde, musste er sich entschuldigen: Manchmal sei er unbeherrscht gewesen. Sonst alles sonnig in der Klassik? Man könnte es glauben. Kinder, die im Orchester spielen, werden angeblich nicht nur musische, sondern in jeder Hinsicht sozialere und einfach bessere Menschen. Man beschwört das demokratische Miteinander, als wäre ein Orchester schlicht der Idealfall menschlicher Gemeinschaft. Der Dirigent, dein Freund und Helfer.
Auch das umgekehrte, das dämonische Klischee ist nicht auszurotten. Alle halbe Jahre zitiert ein Feuilletonist den Philosophen Elias Canetti. Nichts, sagte der, veranschaulicht absolute Macht so gut wie ein Dirigent: "Über Gesetzesbrecher muss er mit Blitzeseile herfallen." Uiuiui. Und in der erfolgreichen US-Serie "Mozart in the Jungle" von 2014 wird ein klassisches Orchester als dystopischer Intrigen-Stadl gezeichnet. Sex, Drugs and Classical Music: Willkommen im Haifischbecken.
Es wäre an der Zeit, mit ein paar Legenden aufzuräumen. Die erste: Gemeine Dirigenten werden laut. Stimmt nicht. Manche bleiben ganz ruhig, auch wenn ein Musiker oder eine Musikerin nicht die gewünschte Leistung bringt. Und sorgen danach diskret für Ersatz am nächsten Tag.
Zweite Legende: Kritisierte Orchestermusiker*innen sind grundsätzlich unschuldige Opfer. Auch falsch. Manchmal ist es nur zu verständlich, wenn Dirigenten unangenehm werden – dann nämlich, wenn die Musikerinnen und Musiker aus Arroganz oder Bequemlichkeit nicht mitgehen. Ein Orchester kann nämlich auch Dirigenten auflaufen lassen.
Dritte Legende: Frauen am Pult sind automatisch humaner. In der Summe könnte das stimmen – wer weiß. Nur gibt es, Schande über den Klassikbetrieb, schlicht zu wenige Dirigentinnen in mächtigen Positionen, um das sagen zu können. Und mit Sicherheit gibt es auch Dirigentinnen, die sich manchmal im Ton vergreifen.
Die vierte, besonders hartnäckige und dumme Legende: Ohne harte Hand entsteht keine große Kunst. Das ist schlicht Quatsch. Großartige Aufführungen gelingen sowohl freundlichen als auch unfreundlichen Dirigenten. Sicher ist aber, dass Angst die Musik schlechter macht. Immer.
Und die letzte Legende: Die große Musik ist so groß, dass sie alle, die sich mit ihr beschäftigen, zu besseren Menschen macht. Stimmt leider nicht, ändert aber auch nichts daran, dass Musik unser Leben glücklich und sinnerfüllt machen kann. Und das schöne ist: Dafür muss man sie gar nicht moralisch überhöhen.
Sendung: "Allegro" am 25. Februar 2022 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK