So kann's gehen. Da wollte Staatsoperndirektor Wolfgang Sawallisch im Dauerclinch mit dem Generalintendanten August Everding mal sein konservatives Image aufpolieren – und schon ging's gründlich daneben. Denn das Produktionsteam für den neuen "Freischütz" 1990 fuhr Webers Dauerbrenner krachend an die Wand. Dabei standen durchaus prominente Namen auf der Besetzungsliste: der renommierte Schauspielregisseur Niels-Peter Rudolph, der Opern-Routinier Otmar Suitner am Pult und eine bewährte Sängercrew. 30 Jahre ist der Skandal jetzt her. BR-KLASSIK-Redakteur Fridemann Leipold war damals dabei.
Ich bin mit dem Regietheater in der Oper aufgewachsen und – ja, Fan. Aber bei diesem "Freischütz" hakte es an der Umsetzung, es knirschte an allen Ecken und Enden. Regisseur Niels-Peter Rudolph hatte versucht, Webers Biedermeier-Idylle kräftig aufzumischen. Dabei setzte er auf das Allheilmittel des Regietheaters und verlegte den "Freischütz" in die Entstehungszeit des Stücks: aus dem Dreißigjährigen Krieg ins heraufziehende Industriezeitalter. Die Natur ist zerstört, zum Finale recken sich bedrohlich fauchende Fabrikschlote in den Bühnenhimmel, und der deutsche Wald ist schon 1821 nicht mehr, was er mal war – jedenfalls bei Ausstatter Wolf Münzner. Einen Psychotrip wollte Rudolph inszenieren, die Zwänge eines restaurativen Gesellschaftssystems anprangern, die Ängste des chancenlosen Paares Agathe und Max bloßlegen.
Eigentlich kein schlechter Ansatz, fand ich damals. Aber auch ich war überrumpelt von den vielen platten Effekten Rudolphs. Denn viel gut Gedachtes geriet dem Regisseur einfach nur läppisch und trivial. Die Wolfsschluchtszene wurde zum Klamauk, der "Freischütz" zur Opern-Parodie. Das Publikum wartete nur auf den nächsten unfreiwillig komischen Einfall des Regisseurs, um mit hämischem Gelächter und Zwischenrufen zu reagieren – und davon gab es viele.
Besonders eingeprägt hat sich mir der unvermeidliche Jägerchor beim Preisschießen, mit dem Rudolph den Vogel abgeschossen hat. Die Jagdgesellschaft zeigte er als brutale Meute, in martialischer Pose triumphierend über Bergen von ausgestopften Tierkadavern: Bären, Elche, Hirsche und Wildsäue. Das Münchner Publikum, das bekanntlich gnadenlos sein kann, buhte aber auch den Dirigenten und die meisten Sänger aus. Denn musikalisch stand die Premiere ebenfalls unter keinem guten Stern.
Ich fand es unfassbar toll, dass da ein ganzes Haus außer Rand und Band war.
Nur einer kommt gut weg in den Kritiken: ein gewisser Klaus Bachler, wie er damals noch hieß. Richtig, der Nikolaus! Bachler, gelernter Schauspieler, hatte in der Produktion als diabolischer Spielmacher die Sprechrolle des Teufels Samiel übernommen. Von Intendanz war damals noch keine Rede. Im Rückblick meint Bachler, die Inszenierung sei einfach zu früh gekommen, heute würde niemand mehr daran Anstoß nehmen. Dem Affentheater damals konnte Bachler im Opernwelt-Interview 2014 sogar Glücksgefühle abgewinnen: "Mir hat das unglaublichen Spaß gemacht. Heute würde man das 'geil' nennen. Ich fand es unfassbar toll, dass da ein ganzes Haus außer Rand und Band war. Es war eine schöne, lustvolle Erfahrung." Da kann ich dem heutigen Intendanten nur zustimmen: Manche Skandale lösen sich im Nachhinein eben in Luft auf. Für einen Aufreger sind sie allemal gut.
Video-Livestream BR-KLASSIK CONCERT "Der Freischütz" am 13. Februar 2021 ab 18:30 Uhr
Radioübertragung "Live aus dem Münchner Nationaltheater – Der Freischütz" am 13. Februar 2021 ab 18:30 Uhr auf BR-KLASSIK