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Ehemaliger Chef der Regensburger Domspatzen gestorben Georg Ratzinger – Befreier und Gefangener

Georg Ratzinger war Domkapellmeister der Regensburger Domspatzen, er war Geistlicher und Papst-Bruder. Die Domspatzen machte er weltberühmt, von sexuellen Missbräuchen wollte er nichts mitbekommen haben. Am 1. Juli ist Georg Ratzinger in Regensburg gestorben.

Bildquelle: picture alliance/AP Photo/Frank Jordans

Domkapellmeister Georg Ratzinger wird vielen Menschen fehlen, denn er war ein Befreier. Er war aber auch ein Gefangener. Und er war ein Seher, obwohl er in seinen letzten Lebensjahren so gut wie blind war. Ein Befreier war er, weil er den Chor der Regensburger Domspatzen von der Provinzialität befreit hat, indem er ihn zu einem weltberühmten Chor machte. Er war ein Gefangener seines Welt- und Erinnerungsbildes in Bezug auf den Missbrauchsskandal bei den Domspatzen. Und er war ein Seher bezüglich der Laufbahn seines jüngeren Bruders Joseph, Papst Benedikt XVI.

Der "Cheef" in Regensburg

Georg Ratzinger, 1924 als Sohn eines Polizisten und einer Köchin in Pleiskirchen bei Altötting geboren, hat sich früh der Kirchenmusik zugewandt. Am 1. Februar 1964 wurde er als Nachfolger von Theobald Schrems Domkapellmeister am Regensburger Dom und Chef der Regensburger Domspatzen – "Cheef", wie ihn die kleinen und großen Sänger liebe- und respektvoll zugleich nannten. Als solcher hat er den Chorklang geändert, was ihm mancher Zeitgenosse auch übelnahm. Die romantischen, sentimentalen Färbungen nahmen zugunsten eines unverwechselbar transparenten Chorklangs ab, mit dem die Domspatzen berühmt werden sollten.

Vom Missbrauchsskandal wollte er nichts wissen

Bildquelle: picture-alliance/dpa Ich konnte den Chor über Jahrzehnte vielfach begleiten und habe den Domkapellmeister immer als absolut konzentrierten, aber auch fürsorglichen Chorchef erlebt. Demgegenüber stehen die Schilderungen ehemaliger Domspatzen, nach denen Georg Ratzinger das Gegenteil eines gütigen väterlichen Chorleiters gewesen sein soll, nämlich eher ein gelegentlich auch zuschlagender Choleriker. Und hier, beim Missbrauchsskandal des Chores, scheint der Kirchenmusiker zum Gefangenen seiner eigenen Erinnerungen geworden zu sein.

"Viele Knaben, die sich jetzt ein bisschen als Opfer geben – man hat geprobt, und man soll ja bestimmte Leistungen erbringen", sagte Ratzinger in einem BR-Interview. "Ein paar passen nicht auf, man sagt "Pass auf!", und einer passt wieder nicht auf … Und wenn der dann gerügt wird und unter Umständen mal eine Ohrfeige kriegt – der ist jetzt das Opfer?" Von sexuellem Missbrauch wollte Ratzinger schon gar nichts wissen, das sei vor seiner Zeit gewesen. Der Missbrauch ging indes auch zu seiner Zeit weiter. Georg Ratzinger hat offenbar weggesehen.

Georg verstand Joseph

Bildquelle: picture-alliance/dpa Georg Ratzinger ist lange vor seinem Tod erblindet. Trotzdem war er ein Seher, nicht nur, was seine Vision des Chorklangs seiner Domspatzen betrifft, sondern auch in Bezug auf seinen Bruder Joseph. Am Vorabend der Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. meinte der ältere Bruder in weiser Voraussicht: "In dem Alter, wo die Kräfte allmählich immer weniger werden, wo mancherlei Wehwehchen sich einstellen, jeden Tag ein anderes – ich bin der Meinung, dass er auch empfindet, dass das vor ihm auch als eine große Mauer stehen würde, die auf ihn sehr hereindrückt."

Georg Ratzinger sollte Recht behalten. Was alle Welt zunächst schockierte, hat er wohl geahnt: Dass nämlich sein jüngerer Bruder die Last des Papstamtes irgendwann nicht mehr ertragen können würde. Der Regensburger Domkapellmeister war eben ein sehr kluger Mensch. Eigentlich zu klug für die Fehler, die er gemacht hat. Aber jedenfalls klug genug, um den Ruf der Regensburger Domspatzen in alle Welt zu tragen.

Sendung: Leporello am 1. Juli 2020 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK