32 Klaviersonaten, acht Konzerte, über zehn Stunden Musik: Pianist Igor Levit ist bei den Salzburger Festspielen mit allen Beethoven-Sonaten zu erleben. In diesem Sommer dort auftreten zu dürfen, sei für ihn ein unwahrscheinliches Glück, so Levit. Und ein gigantisches Vergnügen, meint unser Kritiker.
Erste Sonate, Schlussakkord – und Levit schnellt auf den Klavierhocker zurück, wie eine Feder, die vom Haken gelassen wurde. Ein Moment wie eine Metapher. So greifbar wird hier, welche Kräfte, welche Spannungen entstehen, wenn sich dieser Pianist ans Klavier setzt. Beziehungsweise: klemmt.
Obwohl er einen Konzertmarathon vor sich hat: Levit spart sich nicht auf, denkt gar nicht dran, seine Kräfte zu dosieren. Schon nach wenigen Takten prankt er das erste Mal einen Fortissimoakzent in den Flügel, rammt zeitgleich den Fuß in den Boden. Ich bin da! – das ruft nicht nur die Musik. Das donnert nicht nur Beethoven auf den ersten Metern seines Soloklavierwerks. Dieser Satz spricht genaugenommen aus jeder Geste, jeder Verrenkung, die Levit am Instrument unternimmt. Er stampft und stöhnt, kriecht in die Tastatur hinein und lehnt sich wie ein Rennfahrer in die Kurven seiner rasanten Läufe. Das könnte komisch wirken, zur Karikatur werden, erzeugt aber eine enorme Intensität. Denn diese Performance ist gedeckt durch das, was man hört: ein Gestaltungsfeuerwerk.
Bestes Beispiel ist vielleicht der Kopfsatz der Klaviersonate op. 26, in As-Dur. Ein Variationssatz, der mit einem zarten lyrischen Thema startet, das Beethoven dann im wahrsten Sinne des Wortes dekonstruiert, auseinandernimmt, atomisiert, neu zusammensetzt; wie eine Idee, die gedreht, gewendet und in immer neue Klanggewänder gesteckt wird. Eine Scharade, in die sich Igor Levit mit berauschender Spiellust und irrer Klangfantasie hineinwirft. Da werden hölzerne Staccati plötzlich zu wolkigen Marshmallowsounds. Und brausende Läufe verschwinden vom einen Moment auf den anderen im Nichts – oder implodieren, angespitzt durch ein bisschen Pedal, zu glitzernden Klangflächen.
Wollte man sich doch auf ein Beethovenbild festlegen, das an den ersten Abenden dieses Zyklus dominiert, dann vielleicht das des Spielers und Täuschers. Ein Eulenspiegel, der dem Zuhörer immer wieder die Leiter wegzieht, auf die er ihn gerade geschickt hat. Ganz exemplarisch geschieht das etwa im Mittelsatz seiner G-Dur Sonate, op. 79. Ein romantisches Gondellied, melancholisch schwebend bis zum Schluss. Besser gesagt: bis auf den Schluss. Levit batzt den Akkord unwirsch in die Tasten: "Glotzt nicht so romantisch!"
Sollte an dieser Stelle noch Unklarheit herrschen: Was Levit in Salzburg mit Beethoven macht, ist ein gigantisches Vergnügen! Vor allem das erste Konzert spült mich regelrecht euphorisch zurück auf den Karajanplatz vor dem Salzburger Haus für Mozart. So aufregend lebendig ist das, was hier geboten wird: mehr eine Improvisation als Interpretation. Da ist nichts in Stein gemeißelt, da wird kein Beethoven-Denkmal enthüllt, sondern da entsteht was.
Zu kleineren Abstrichen zwingt erst der zweite Abend: Was am Sonntag noch hinter dem Gesamteindruck verschwindet, tritt nun deutlicher hervor: Levit liebt das Extrem. Allerdings – wenn der Pianist zum dritten, vierten Mal mit Vollgas durch einen schnellen Satz rauscht, dann wird selbst dieses Extrem für den Hörer zur Normalität. Sozusagen ein "typischer Levit". Dann fallen sie plötzlich auf, die Läufe, die nur noch so durchglitschen, die Artikulation vermissen lassen, flächig werden. Dann wird auch das Levit'sche Pathos sichtbar. Nach dem Motto: das Langsame noch langsamer. Jeder Ton ein Schicksalsschlag – sei's in der düster-jenseitigen Klangwüste des Mittelsatzes der "Waldstein". Oder im schwermütigen Beginn von "Les Adieux“". Trotzdem – das sind Randbemerkungen, die dem Gesamteindruck keinen Abbruch tun. Der Start seines Salzburger Beethoven-Zyklus ist Igor Levit zum Heulen gut gelungen.
Sendung: "Allegro" am 04. August 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Igor Levit macht Beethovens Welt auch im BR-KLASSIK-Podcast "32 x Beethoven" lebendig. In 32 Podcast-Folgen – eine für jede Sonate – wird hörbar, was Beethovens Musik so revolutionär und einzigartig macht.
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