Mit einem vielseitigen und bunten Soloprogramm - mit Werken von Mozart, Ponce, Fauré, Debussy und Mussorgsky - gibt Ingrid Jacoby am 15. November im Studio 2 des BR ihr München-Debüt. Die Pianistin mit deutsch-norwegischen Wurzeln bezeichnet sich als typische Amerikanerin und verrät BR-KLASSIK außerdem, dass einer ihrer Verwandten ein enger Vertrauter Beethovens war.
BR-KLASSIK: Sie sind Amerikanerin, leben nun schon seit längerer Zeit in London. Was hat es mit diesem Familiennamen auf sich? Was gibt es für familiäre Wurzeln?
Ingrid Jacoby: Ich bin eine typische Amerikanerin - denn mein Vater kommt aus Deutschland und meine Mutter aus Norwegen. Meine Eltern sind dann in die USA ausgewandert, wo ich geboren wurde. Während meiner Kindheit war ich hauptsächlich von Europäern umgeben. Mein Name müsste eigentlich "deutsch" ausgesprochen werden.
BR-KLASSIK: Musikalische Spuren lassen sich in Ihrer Familie in Europa offensichtlich weit zurück verfolgen, wenn es stimmt, dass Prinz Louis Ferdinand von Preußen - der berühmte Vertraute Beethovens, selbst Pianist und Komponist - mit Ihnen verwandt ist. Welche Linien führen zu diesem Fürsten?
Ingrid Jacoby: Das reicht wirklich sehr weit zurück. Prinz Louis Ferdinand ist ja schon sehr jung gestorben. Er hatte mehrere Kinder, ist aber unverheiratet geblieben. Man kann das alles nur sehr schwer anhand schriftlicher Dokumente zurückverfolgen. In meiner Familie hieß es jedenfalls, dass er zwei Söhne hatte: einen namens Louis, der andere hieß Ferdinand. Sie wurden beide von der preußischen Regierung unterstützt. Einer wurde ein recht bekannte Künstler. Seine Radierungen befinden sich in den verschiedensten Museen. Er war wohl außerdem der Leiter der Münzprägeanstalt. Es ist ziemlich eindeutig, dass Prinz Louis Ferdinand der Vater dieser beiden Kinder gewesen ist. Aber sie waren illegitim.
Es ist natürlich schön, wenn man behaupten kann, ein Verwandter habe Beethoven persönlich gekannt.
BR-KLASSIK: Bedeutet Ihnen diese doch sehr traditionsreiche Verwurzelung heute etwas?
Ingrid Jacoby: Nein, mir ist das nicht wichtig. Mein Management hat mich nach meiner Herkunft gefragt, um zu verstehen, wie ich denn zur Musik gekommen bin. Und diese Verbindung wäre eine Erklärung. Es ist natürlich schön, wenn man behaupten kann, ein Verwandter habe Beethoven persönlich gekannt. Das dritte Klavierkonzert hat Beethoven ja Prinz Louis Ferdinand gewidmet. Es gibt aber noch eine interessante Geschichte und zwar in einem anderen Zweig meiner Familie. Ein Urururonkel von mir namens Benno Landecker hat sich in der Zeit des Goldrauschs nach Kalifornien aufgemacht und dort tatsächlich sein Glück gefunden. Recht vermögend kehrte er nach Berlin zurück. Zusammen mit seinem Partner Hermann Wolff, damals ein bekannter Impresario, hat er die erste Berliner Philharmonie gekauft und damit im Prinzip das Orchester gegründet. In seiner Autobiografie erzählt Gregor Piatigorsky eine sehr nette Anekdote. Als er für sein Celloprobespiel zum ersten Mal nach Berlin kam, hatte er kein Geld für ein Hotel. Also hat er in der Loge von Landecker übernachtet. Als mein Vater noch ein Kind war, hat er zusammen mit seiner Mutter sehr viele Konzerte dort besucht. Sie saßen immer in der Landecker-Loge, weil sie seinem Großonkel gehört hatte. Leider wurde diese erste Berliner Philharmonie im 2. Weltkrieg durch Bomben zerstört. Es gibt sie also nicht mehr. Diese Beziehung gibt es zwar, aber ihre sichtbaren Beweise sind leider verschwunden.
BR-KLASSIK: Entscheidend für Ihre Laufbahn muss schließlich ihr Aufeinandertreffen mit Yehudi Menuhin gewesen sein. Wie war diese Begegnung? Was für Folgen ergaben sich für Sie daraus?
Ingrid Jacoby: Ich war noch sehr jung, als ich zum ersten Mal nach England kam. Ich hatte den Wettbewerb "Concert Artists Guild" in New York gewonnen. Man hat mich dann nach London eingeladen, um die Kandidaten für den nächsten Wettbewerb anzuhören. Yehudi Menuhin war auch da. Und weil ich noch so jung und so naiv war, bin ich einfach zu ihm hingegangen und habe gesagt: "Hallo, mein Vater hat Sie in Berlin gehört und fand Sie toll. Ich würde Ihnen gerne vorspielen." Wahrscheinlich war er so überrascht, dass er spontan sagte: "Ja, natürlich." Ich habe ihn also in seinem wunderschönen Haus besucht und ihm vorgespielt. Er war sehr freundlich, wie er es zu so vielen Musikern gewesen ist. Er hat mich zunächst an ein Management vermittelt. Ich habe ihn danach noch sehr oft gesehen. Natürlich war er ein ganz grandioser Musiker, aber er hatte dazu auch ein großes Herz. Er war sehr empathisch und hat sich für die Probleme auf der Welt interessiert und versucht, zu helfen. Er hat mich sehr beeindruckt und hat mir viel bedeutet.
BR-KLASSIK: War diese Begegnung letztlich dafür ausschlaggebend, dass London Ihr Lebens- und Arbeitsmittelpunkt wurde?
Ingrid Jacoby: Das habe ich damals sicher nicht so empfunden. Aber weil er mich an ein Management vermittelt hatte, bekam ich Auftritte. Ich bin also da geblieben, wo ich arbeiten konnte. In dieser Hinsicht war er tatsächlich der Auslöser dafür, dass ich jetzt in England lebe.
Der Schlüssel zum Verständnis klassischer Musik liegt in der Erziehung.
BR-KLASSIK: Mit Blick zurück: Welche Rolle spielte Musik in Ihrem Elternhaus? Wie wurde Ihr Interesse für Klassik geweckt?
Ingrid Jacoby: Mein Vater war äußerst musikalisch. Er hat eine Art "Musikstunde" ins Leben gerufen. Jeden Monat gab es musikalische Vorlesungen, immer bei einem anderen unserer Freunde. Dabei wurden verschiedene Musikstile verglichen. In einem Jahr ging es um sämtliche Schostakowitsch-Symphonien. In einem anderen wurde ein musikalisches Thema herausgegriffen, das verschiedene Komponisten unterschiedlich verwendet haben. Er hat uns immer alles am Klavier vorgespielt. Er war sehr charmant und bewandert. Ich glaube, dass ein Kind Musik ähnlich erlernt wie eine Sprache. Wenn man das schon sehr früh lernen kann, ist es etwas sehr Natürliches. Es wird Teil des eigenen Körpers. Der Schlüssel zum Verständnis klassischer Musik liegt in der Erziehung. Je früher man beginnt, desto besser. Ich hatte das Glück, in einer musikalischen Umgebung aufwachsen zu können. Klavier zu spielen, war ganz selbstverständlich. Und das Hören von symphonischer Musik, Kammermusik, Oper, Liedern. Durch all das bekommt man einen guten Überblick über die verschiedenen Musikstile, über Ausdruckform und über Qualitätsunterschiede von Aufnahmen und Konzerten. Ich plädiere sehr für eine gute künstlerische Ausbildung. Ich fordere jeden auf, einmal die Ouvertüre zu "Le Nozze di Figaro" anzuhören oder ein Nocturne von Chopin. Das ist einfach geniale Musik. Letztes Jahr war ich auf meiner ersten Konzerttournee in China und war total begeistert, dass so viele junge Menschen zu den Konzerten kamen - sogar fünf- oder achtjährige Kinder mit ihren Eltern. Dabei wurde mir klar, wie wichtig Eltern für die Heranführung an klassische Musik sind. Selbst wenn man das nicht für seinen Beruf benötigt, ist es doch entscheidend für die menschliche und kulturelle Bildung und die Persönlichkeitsentwicklung. Gerade heutzutage brauchen wir das so sehr.
BR-KLASSIK: Wann wurde es ernst mit dem Klavier? Wie entwickelte sich der Wunsch, Profimusikerin zu werden?
Ingrid Jacoby: Da sind wir wieder beim gleichen Thema wie vorhin. Meine erste Klavierlehrerin war eigentlich nicht besonders. Ich sollte das vielleicht nicht sagen, denn sie war eine sehr nette Dame. Aber sie hat mir nicht viel beigebracht. Alles, was ich spielte, war wunderbar. Es ging nur darum, dass ich die richtigen Noten und rhythmisch und stilistisch korrekt spielte. Auch ein wenig Technik. Aber überhaupt keine Emotionalität. Ich ging jede Woche zu ihr, spielte mein Stück und bekam ein neues. Das war's. Hauptsache, ich habe die Noten geübt. Da dachte ich mir natürlich: Musik ist ganz schön langweilig, kein bisschen anstrengend oder interessant. Meine Eltern haben sich schon richtig Sorgen gemacht. Dann erfuhren sie, dass eine ehemalige Klavierlehrerin vom Moskauer Konservatorium in unsere Stadt gezogen ist. Sie haben sich einige ihrer Schüler angehört und fanden, dass alle irgendetwas Besonderes zu sagen hatten. Sie haben mich also zu ihr gebracht. Schon bei meiner ersten Stunde hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie mich nicht so großartig fand. Sie kritisierte mich und versuchte, etwas Leben in mein Spiel zu bringen. Sie hat nebenher gesungen und herumgetanzt. Und ich bin in Tränen ausgebrochen, weil sie mich nicht so toll fand. Aber es begann, mich zu faszinieren. Ich habe mit ihr an einer Ballade von Chopin gearbeitet. An einer bestimmten Stelle wurde mir plötzlich klar, dass man in dieser Musik noch sehr viel mehr emotionale Seiten entdecken kann. Sie hat mich erst dazu gebracht. Ich unterrichte auch selbst ein wenig. Dabei lerne ich manchmal sogar mehr als die Schüler. Man muss nämlich genau formulieren können, wie man etwas macht. Manchmal spielt man etwas ganz selbstverständlich, ohne genau zu analysieren, wie man es spielt. Wenn man es aber genauer beschreiben muss, denkt man auch mehr darüber nach. Man kann als guter Lehrer keinen Musiker kreieren. Man kann nur das zu Tage bringen, was schon vorhanden ist. Aber das ist dafür sehr wichtig. Meine russische Klavierlehrerin hat die emotionale Seite in mir hervorgeholt, von der ich nichts wusste.
BR-KLASSIK: Zu der Begeisterungsfähigkeit gehört eine große Portion Disziplin. Wenn Sie zurückschauen in Ihre Kindheit und Jugendjahre: Waren Wille und Motivation, Musikerin zu werden, so stark, dass Sie das tägliche Ringen und Arbeiten gut bewältigen konnten?
Ingrid Jacoby: Man muss eigentlich immer hart arbeiten. Natürlich braucht es Begeisterung und auch Spaß, damit man, vor allem als Kind, weitermacht. Für mich gehört aber grundsätzlich eine gehörige Portion Disziplin dazu, wenn man etwas erreichen will. Schon als junges Mädchen war ich mir darüber im Klaren, dass ich nur belohnt werde, wenn ich arbeite. Allerdings hatte ich auch Glück. Das neu eröffnete Konservatorium von St. Louis war damals eigentlich nur für Studenten zugänglich. Für mich machten sie glücklicherweise eine Ausnahme. Obwohl ich noch die High School besuchte, konnte ich schon im Konservatorium Unterricht bekommen. Morgens bin ich also zur Schule gegangen und am Nachmittag ins Konservatorium. Den versäumten Unterricht musste ich dann leider während des Sommers nachholen. Aber ich wollte es so. Und es hat sich schon gelohnt.
BR-KLASSIK: Ihr Berufsleben heute als Solistin, gerade als Pianistin, ist mit vielen Reisen verbunden, mit Allein-Sein, auch großer Konkurrenz. Wie gehen Sie mit diesen Herausforderungen um - oder empfinden Sie diese gar nicht als solche?
Ingrid Jacoby: Ich reise zwar allein, aber treffe dabei auch viele Leute. Während dieser China-Tournee hat mich eine Dame in alle sechs Städte begleitet. Ich war also immer mit ihr zusammen. Außerdem habe ich unterwegs Menschen getroffen. Wenn ich mit Orchestern spiele, treffe ich mich zuvor mit dem Dirigenten oder kenne manchmal einige Orchestermusiker. Ich bin also nicht ganz allein. Auch bei Solokonzerten trifft man sich oft nach dem Konzert mit Bekannten. Oder man kennt schon Leute in einer bestimmten Stadt. Es bleibt oft nur wenig Zeit, aber ich fühle mich nicht sehr allein.
BR-KLASSIK: Wie nähern Sie sich neuem Repertoire, einem neuen Stück oder einem ganzen Kanon?
BR-KLASSIK: Mit Sir Neville Marriner verband Sie eine enge Zusammenarbeit. In den letzten Jahren haben Sie unter seiner Leitung mit der Academy of St. Martinis in the Fields drei CDs mit Mozart-Konzerten eingespielt. Damit treten Sie in die Fußstapfen von legendären Pianisten wie Alfred Brendel, Murray Perahia oder John Ogdon. Sie alle haben legendäre Aufnahmen realisiert. Was bedeutet Ihnen diese Zusammenarbeit, besonders mit Blick auf das Stichwort Mozartinterpretation?
Ingrid Jacoby: Dieses Repertoire haben Neville Marriner und die Academy während ihrer gesamten Laufbahn gespielt. Sie kennen es wirklich gut. Als Sir Neville mich einlud, diese Werke mit ihm aufzunehmen, war er so liebenswürdig. Er meinte, dass er die Mozart-Klavierkonzerte nach Alfred Brendel nur mit mir als Solistin aufnehmen möchte. Da sagt man natürlich nicht Nein. Und es war ein so tolles Erlebnis! Er selbst war ein so mitreißender und zugleich sehr bescheidener Mensch. Für mich war es eine große Freude, dieses Repertoire mit ihm aufzunehmen. Mozart war seiner Zeit meiner Meinung nach weit voraus. Je länger ich seine Musik studiere, desto mehr begeistern mich die schnellen Wechsel in seiner Musik, der Humor, die Tragik, die Farben. Das hat er alles in so kurzer Zeit vollbracht. Er war einfach ein Genie mit wachem Geist. Seine Musik berührt heute noch die Menschen. Es ist ein großes Privileg, diese Musik aufnehmen zu können.
BR-KLASSIK: Werden Sie die Mozart-Aufnahmen mit der Academy of St. Martin in the Fields fortsetzen?
Ingrid Jacoby: Das kommt auf die Finanzierung an. Alle Aufnahmen erfordern heute zusätzliche finanzielle Unterstützung. Davon hängt es ab. Hoffen wir das Beste.
BR-KLASSIK: In unserem BR-Archiv habe ich eine Aufnahme aus dem Jahr 1983 mit ihrem Namen gefunden: einen Konzertmitschnitt vom sogenannten "Podium Junger Künstler" im Münchner Stadtmuseum. Sie spielten damals mit dem Cellisten Felix Schmidt zusammen ein Duoprogramm mit Stücken von Brahms, Beethoven, Fauré, Tschaikowsky und anderen. Können Sie sich noch daran erinnern? Wie kam es dazu?
Ingrid Jacoby: Irgendwie schon. Ich erinnere mich an Cordula Kempe, die Witwe des berühmten Dirigenten Rudolf Kempe. Sie hat uns netterweise zu diesem Konzert eingeladen. Ich glaube, ich habe auch ein Nocturne von Chopin gespielt, aber ich weiß es nicht mehr genau. Und vielleicht die Bach-Busoni-Chaconne? Ich weiß nicht mehr. Jedenfalls war es sehr schön.
BR-KLASSIK: Das war Ihr bisher einziger München-Abstecher. Ist das richtig?
Ingrid Jacoby: Ja, und ich glaube, dass auch Yehudi Menuhin etwas damit zu tun hatte. Denn Felix Schmidt hatte die Menuhin-Schule besucht und kannte ihn daher auch.
BR-KLASSIK: So können wir jetzt schon noch von einem München-Debüt sprechen …
Ingrid Jacoby: Ich würde sagen, ja. Damals war es ja ein Kammermusik-Konzert. Dieser Abend ist der erste Soloauftritt in München.
BR-KLASSIK: Kommen wir zu Ihrem Programm im Studio 2. Sie spielen ein sehr facettenreiches Konzert mit Musik von Mozart, Manuel Ponce, Fauré, Debussy und Mussorgsky. Wie kam es zu dieser Programmzusammenstellung? Was liegt Ihnen an diesen Stücken?
Ingrid Jacoby: Es ist sehr bunt. Und das mag ich. Für mich ist Vielfalt in einem Programm sehr wichtig. Und es sollte möglichst klug zusammengestellt sein. Dieses Programm enthält einige ungewöhnliche und ein paar sehr bekannte Werke. Ich hoffe, dass es alles gut zusammen funktioniert. Diese Programmfolge habe ich so noch nie gespielt, die einzelnen Stücke natürlich schon.
BR-KLASSIK: Was steht in nächster Zeit an? Auf welche Projekte oder Konzerte freuen Sie sich ganz besonders?
Ingrid Jacoby: Es stehen ganz unterschiedliche Projekte an. Ich werde in Osteuropa auftreten und ein Solokonzert in der Salle Gaveau in Paris geben. Außerdem werde ich Konzerte in den USA spielen. Man hat mich auch wieder nach China eingeladen. Ich plane zudem noch weitere Aufnahmen. Daran arbeite ich noch, denn ich möchte neben den Mozart-Konzerten noch etwas anderes aufnehmen. Dafür muss ich noch nach geeignetem Repertoire suchen.
Das Gespräch führte Meret Forster für BR-KLASSIK.