Ein modernes Orchester zu dirigieren, das war und ist für viele Alte-Musik-Spezialisten kein Problem mehr. Schon Nikolaus Harnoncourt kam gern, wenn das Concertgebouw oder die Wiener Philharmoniker angerufen haben, und viele sind ihm gefolgt. Für eine der Koryphäen der Historischen Aufführungspraxis ist das aber nach wie vor ein Tabu: für den Belgier Jos van Immerseel. Am 9. November 2020 wird Jos van Immerseel 75 Jahre alt.
Er hat nicht nur Bach oder Beethoven auf Originalinstrumenten interpretiert, sondern sogar Carl Orff. Die "Carmina Burana" in Historischer Aufführungspraxis – was für manche wie ein Witz klingt, ist Jos van Immerseel mit derselben Neugier und Ernsthaftigkeit angegangen, als wäre es ein vergessenes Werk der Barockzeit. Hat nach originalen Blasinstrumenten aus den 1930er Jahren gesucht, hat die Pauken mit Fell und die Streicher mit Darmsaiten bespannt. Hat aber auch Orffs Partitur penibel beachtet, jede Metronomangabe, jeden Staccatopunkt, jeden Akzent. Ganz gemäß seiner Definition von Alter Musik:
Für mich endet die Alte Musik da, wo die Konventionen sich geändert haben – das heißt eigentlich gestern!
"Anima Eterna" – der Name des Orchesters ist nichts anderes als die lateinische Übersetzung des Namens Immer-Seel. 1987 hat er es gegründet. Da war er schon ein renommierter Cembalist, hatte zahlreiche Wettbewerbe gewonnen, auch an der Orgel und am modernen Klavier, hatte in Antwerpen unterrichtet und sogar einige Jahre das berühmte Amsterdamer Konservatorium geleitet. Nun suchte er eine neue Herausforderung. Ursprünglich war "Anima Eterna" ein Barockorchester. Aber bald weitete sich der Fokus hin zu Werken der Klassik und Romantik. Und entsprechend erweiterte sich auch Immerseels private Instrumentensammlung – auf 17 Flügel.
Wer Historische Aufführungspraxis mit rasanten Tempi gleichsetzt, liegt bei Jos van Immerseel falsch. Er ist einer der Gelassensten seiner Zunft. Drittklassige Barockmusik modisch aufzupeppen ist nicht seine Sache; stattdessen verblüfft er mit einem frischen Blick auf altbekannte Meisterwerke, Ravels Bolero, Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" oder Janáčeks "Sinfonietta". Mit kleinen, wendigen Besetzungen, Liebe zum Detail und großem Respekt vor der Partitur. "Ich bin kein Missionar", sagt Immerseel von sich. "Ich will einfach probieren, die Musik so darzustellen, so wie sie wahrscheinlich vom Komponisten gemeint ist."
Sendung: Allegro am 9. November 2020 ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK