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Kritik – "Judith" an der Bayerischen Staatsoper Vom Märchen zum Psychokrimi

Ein Serienmörder als Märchenfigur: Der Stoff ist verstörend. In seiner einzigen Oper erzählt Béla Bartók die Geschichte von Herzog Blaubart, dessen frühere Frauen rätselhafterweise verschwunden sind. Regisseurin Katie Mitchell deutet die Geschichte als feministischen Psychokrimi. Und erzählt in einem Film die Vorgeschichte der Opernhandlung, begleitet von Bartóks berühmtem Konzert für Orchester. Mit Nina Stemme als Judith und Oksana Lyniv als Dirigentin sind zwei weitere große Künstlerinnen am Start, den Blaubart singt John Lundgren. Am Samstag war Premiere.

Bildquelle: Wilfried Hoesl

Im Märchen ist Blaubart ein Verbrecher. Er verbietet seiner Frau, einen bestimmten Raum zu betreten. Natürlich tut sie es doch – und findet dort die Leichen von Blaubarts früheren Frauen. Nun soll sie ebenfalls sterben. Blaubart hat schon sein Schwert gezogen, um ihr den Kopf abzuschlagen. Doch im letzten Moment wird sie von ihren Brüdern gerettet. 

VOM MÄRCHEN ZUM PSYCHODRAMA

Eine drastische Story. Béla Bartók hat daraus etwas völlig anderes gemacht: ein Beziehungsdrama voller Symbole und Doppeldeutigkeiten. Bei Bartók ist Blaubart ein grausamer, aber verletzlicher Mann. Die früheren Frauen leben – eingesperrt in der düsteren, verschlossenen Burg, die für Blaubarts Seele steht. Die Geschichte wird ins Psychologische verschoben: Hinter der Grausamkeit verbirgt sich männliche Beziehungsunfähigkeit.

VOM PSYCHODRAMA ZUM KRIMI

Szene aus "Judith" an der Bayerischen Staatsoper mit Nina Stemme und John Lundgren | Bildquelle: Wilfried Hoesl Schnitt. Eine Nacht im London der Gegenwart. Die Lichter der Großstadt, eingefangen in betörend schönen Bildern zur magischen Musik von Bartóks Konzert für Orchester. Über ein Onlineportal lockt Blaubart Edelprostituierte in seine hochtechnisierte Wohnung. Er lässt sie von seinem Fahrer im schwarzen Mercedes abholen, betäubt sie, fesselt sie mit Kabelbindern, kerkert sie ein und macht sie seinen perversen Fantasien gefügig. Doch eine Kommissarin ist ihm auf der Spur, gespielt von Sopranistin Nina Stemme, die auch das Zeug zur Kinodarstellerin hätte. Sie nimmt eine falsche Identität an, verkleidet sich als Prostituierte und bietet Blaubart auf dem Onlineportal ihre Dienste an. Der beißt an. Unter dem Namen Judith gelangt die Kommissarin in Blaubarts hermetisch abgeriegelte Wohnung.

ORCHESTERFARBEN WERDEN SICHTBAR

Noch bleiben alle Figuren stumm, nur Bartóks Musik gibt den Bildern Klang und Rhythmus. Und das wirkt deswegen so stark, weil der Film auf die Musik reagiert – ohne dabei sklavisch der Komposition zu folgen. Jede Ebene hat eine in sich stimmige Dramaturgie. Doch zusammen ergeben sie etwas völlig Neues. Die Bilder hören auf die Klänge, die Musik taucht die Bilder in intensiveres Licht. Verstörende Großaufnahmen bohren sich wie im Fortissimo ins Auge, die Orchesterfarben werden sichtbar und der Bildschnitt setzt Kontrapunkte zu Bartóks mitreißenden Rhythmen.

TÄUSCHUNG UND VERFÜHRUNG 

Szene aus "Judith" an der Bayerischen Staatsoper mit Musik von Bartók | Bildquelle: Wilfried Hoesl Das ist zunächst einfach sehr ästhetisch – und baut in bester Krimitradition Suspense auf. Doch vor allem gelingt es Regisseurin Katie Mitchell durch den Kunstgriff mit dem Film vorab, ihre Version der Geschichte mit einer selten erreichten Klarheit und Überzeugungskraft auf den Text von Bartóks Oper zu projizieren. Denn jetzt, wo die Figuren als lebendige Darsteller auf die Bühne treten und die eigentliche Opernhandlung beginnt, sind wir von der Krimihandlung schon so gefangen, dass Mitchells Neudeutung nicht die geringste Verrenkung abverlangt. Judith und Blaubart durchschreiten Raum um Raum: Folter- und Schatzkammer, Gewächshaus und Flugsimulator – eine realistisch gezeichnete Alptraumwelt der Gegenwart. Doch die meisterhafte Personenregie hält zugleich alles in der Schwebe. John Lundgren zeigt den Blaubart als einen zugleich brutalen und peniblen, von Angst und Kontrollwahn beherrschten Perversen. Die beiden belauern sich, lassen sich ein auf ein raffiniertes Spiel von Täuschung und Verführung, das bis zum letzten Moment spannend bleibt. So gelingt es Regisseurin Katie Mitchell, Bartóks Symbolismus mit den feministisch umgedeuteten Krimi-Versatzstücken zu kombinieren. Und das bleibt spannend bis zum finalen Showdown – dessen Ende nur Spielverderber verraten würden. 

UNBEDINGT HÖRENS- UND SEHENSWERT

Reingehen lohnt sich nämlich absolut. Nicht nur die szenische Umsetzung ist rundum stimmig, auch die musikalische. Nina Stemmes dramatischer Sopran klingt nicht mehr ganz so mühelos wie früher, aber hat immer noch eine vom ersten Ton an in Bann ziehende, dunkel leuchtende Intensität. Stark auch John Lundgren, der dieser Bariton-Partie passend zur düsteren Inszenierung souveräne Bass-Schwärze verleiht. Wie differenziert und farbenprächtig das Bayerische Staatsorchester die beiden Bartók-Partituren umsetzt, ist wirklich großartig. Die strenge Probenarbeit von Dirigentin Oksana Lyniv hat sich gelohnt. Atemberaubend unheimlich gelingen die Pianissimo-Stellen. Die rhythmisch vertrackten Bläser-Soli werden punktgenau und mit jazzigem Groove serviert. Und die überwältigende Orchesterpracht, die immer wieder jäh zusammenbricht, versinnlicht eindrucksvoll Blaubarts grenzenlose Macht-Phantasien. Unbedingt hörens- und sehenswert.

Sendung: "Allegro" am 03. Februar 2020 ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK

"Judith" live auf BR-KLASSIK

Am 7. Februar 2020 wird die Vorstellung von "Judith" an der Bayerischen Staatsoper auf BR-KLASSIK live übertragen – ab 18.30 Uhr im Videostream und im Radio.