Die Berliner Philharmoniker starten zuhause immer schon Ende August in die neue Saison, anschließend gehen sie traditionell auf Europa-Tournee. Erste Station war wie gehabt Salzburg, wo die Berliner Philharmoniker kurz vor Ende der Festspiele wieder zwei Konzerte gaben. Chefdirigent Kirill Petrenko präsentierte zwei unterschiedliche Programme im Großen Festspielhaus.
Wenn der Name Paul Hindemith fällt, rümpfen Klassikfreunde gern die Nase: zu sperrig, zu spröde, zu akademisch. Dass genau das Gegenteil der Fall ist, haben die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko bei ihrem Salzburger Gastspiel furios bewiesen. Man muss Hindemiths Musik nur so brillant, schlagfertig und gewitzt spielen, wie das die Berliner Edeltruppe mit den "Sinfonischen Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber" vorgeführt hat.
1943 im amerikanischen Exil ursprünglich für ein Ballettprojekt komponiert, haben sich diese Bearbeitungen vor allem von Klavierstücken Webers dann als effektvolles Orchesterfutter verselbständigt. Wenn Hindemith schrieb, er habe Webers Themen "leicht gefärbt und ein bisschen schärfer gemacht", so ist das weit untertrieben. Denn was er sich da an Marsch-Exzessen, China-Klischees à la "Turandot" und parodistischen Schlenkern erlaubt hat, verzerrt Webers heile Welt bis zur Unkenntlichkeit.
Toll, was Petrenko mit seinen fantastischen Solisten aus diesen Kabinettstücken herausholt, wie plastisch er die grandiose Orchesterpalette Hindemiths ausschöpft. Das hat Zug und Biss, Petrenko sorgt für zackige Rhythmen und krasse Brüche. Aber auch für wunderbar kammermusikalische Momente. Und manche Tanzepisode animiert Petrenko sogar zu lockerem Swing aus der Hüfte. Dieses Opus ist hier ein Showpiece für Weltklasse-Orchester von amerikanischer Brillanz.
Weber pur gab es zu Beginn des ersten Salzburger Konzerts der Berliner Philharmoniker: Weich und innig intoniert Solohornist Stefan Dohr Oberons Zauberruf zum Auftakt der gleichnamigen Ouvertüre. Da ist der Operndirigent Petrenko ganz in seinem Element. Zart und elegant beschwört er Webers Elfen-Romantik herauf, bevor er die Philharmoniker energisch losgaloppieren lässt – wahrlich "con fuoco", also "mit Feuer".
Mit einem markanten Hornruf beginnt auch die "Große" C-Dur-Symphonie von Franz Schubert, ein Prüfstein für jeden Dirigenten. Petrenko nimmt die Grundtempi durchaus zügig, bremst Schuberts vorwärtsdrängende Energie aber immer wieder ab, wenn sich Abgründe von Wehmut und Schmerz auftun. Im Andante lässt er den Liederkomponisten Schubert anklingen, und das Finale schnurrt dann unerbittlich wie ein Uhrwerk ab, federnd und scharf artikuliert.
Russisch ging es in der ersten Hälfte des zweiten Abends mit den Berliner Philharmonikern zu – ein Heimspiel für Kirill Petrenko. Den Auftakt machte die Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia" von Peter Tschaikowsky. Als passionierter Tschaikowsky-Dirigent lieferte Petrenko eine absolut kitschfreie Interpretation, spitzte die Konflikte erbarmungslos schroff zu, verinnerlichte die Sehnsucht der Liebenden im unsentimentalen Streicherglanz seines Prachtorchesters.
Im frechen Ersten Klavierkonzert des 20-jährigen Sergej Prokofjew gab dann die gleichfalls russische Pianistin Anna Vinnitskaya ein fulminantes Salzburg-Debüt. Mit großer Geste stürzte sie sich in das glamouröse Anfangsthema, das man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Vinnitskaya verbiand perkussive Tastenraserei mit betörender Eleganz. Am Ende ging ihr allerdings ein wenig der Gaul durch – wen wundert's bei diesem Parforceritt!
Es war mutig von Petrenko, sein umjubeltes Gastspiel mit einem völlig unbekannten spätromantischen Werk zu beschließen. Schon in seiner Zeit als Generalmusikdirektor an der Komischen Oper in Berlin hatte er sich für die Symphonik des Tschechen Josef Suk starkgemacht. In Salzburg stellte Petrenko "Ein Sommermärchen" vor, nach der Trauersymphonie "Asrael" die zweite Tondichtung aus der monumentalen Tetralogie von Suk – quasi ein "Zurück ins Leben".
Was für ein Erlebnis, nach der Corona-Zwangspause mal wieder ein riesig besetztes, spätromantisches Orchester auf der Bühne zu sehen – die Salzburger Festspiele haben es möglich gemacht! Suk nutzt den großen Apparat allerdings weniger für rauschhafte Höhepunkte als zur Ausdifferenzierung des Klangs, für originelle Mixturen und die Simulation bizarrer Naturlaute. Irgendwo zwischen Impressionismus und dem frühen Schönberg ist seine klangsinnliche Partitur von 1907 angesiedelt.
Solche Musik liegt Petrenko besonders. Wie er Übergänge gestaltet und Steigerungen disponiert, wie er in kontrollierter Ekstase schwelgt und seinem Orchester die feinsten dynamischen Schattierungen abgewinnt – das ist eine Klasse für sich. Möge die "Entente cordiale" zwischen ihm und den Berlinern weiter wachsen und gedeihen!
Sendung: "Allegro" am 31. August 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK