Der SZ-Artikel "Igor Levit ist müde" sorgt im Netz weiterhin für Diskussionen. Besonders der Begriff "Opferanspruchsideologie" stößt im Zusammenhang mit dem Pianisten, der aus einer jüdischen Familie stammt, auf heftige Kritik. Die Chefredaktion der Süddeutsche Zeitung hat sich nun bei Levit entschuldigt.
Die Reaktionen auf den Artikel "Igor Levit ist müde", der am 16. Oktober in der Süddeutschen Zeitung erschien, sind heftig. Vor allem auf Twitter wird viel darüber diskutiert, inwieweit die Kritik am politischen Engagement des Pianisten gerechtfertigt ist. Auch BR-KLASSIK kommentierte den Beitrag bereits. Musikkritiker Helmut Mauró kritisiert in seinem Beitrag nicht nur das Klavierspiel von Levit, sondern auch dessen Präsenz auf Twitter.
Nachdem die SZ vergangene Woche die Kritik an diesem Text zurückgewiesen hatte (s.u.), hat sich nun die Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung am Dienstagabend (20. Oktober) bei Levit entschuldigt. Die Chefredakteure Wolfgang Krach und Judith Wittwer schreiben zum umstrittenen Artikel: "Viele unserer Leserinnen und Leser kritisieren diese Veröffentlichung scharf und sind empört. Manche empfinden den Text als antisemitisch, etliche sehen Levit als Künstler und Menschen herabgewürdigt. Auch er selbst sieht das so. Das tut uns leid, und deswegen bitten wir Igor Levit persönlich wie auch unsere Leserinnen und Leser um Entschuldigung." Neben dieser Entschuldigung veröffentlichte die SZ in der gleichen Ausgabe Leserbriefe und Twitter-Reaktionen, die zum großen Teil den Artikel über Levit stark kritisieren. Dies entspreche laut den Chefredakteuren auch der Meinung innerhalb der SZ-Redaktion, viele Redakteurinnen und Redakteure empfänden Teile des Textes ebenfalls als antisemitisch.
Das entspricht auch der Wahrnehmung anderer Journalisten. Vor allem die Wortwahl des SZ-Autors ruft bei den Kommentatoren Widerstand hervor. Kulturjournalist Johannes Schneider schreibt dazu auf ZEIT.de, es sei "in höchstem Maße fraglich ob man einem Leidtragenden von Antisemitismus mit 'Opferanspruchsideologie' kommen muss, ferner mit dem Verweis auf andere (jüdische) Musiker wie Daniel Barenboim und den Pianisten Daniil Trifonov, weil sie politisch versöhnlicher (Barenboim) und künstlerisch fokussierter (Trifonov) auftreten." Bezüglich der Präsenz von Igor Levit in den sozialen Medien, kommentierte Schneider: "Zu behaupten, ein Pianist gelange wegen seiner deutschsprachigen Twitter-Aktivitäten zu höchstem internationalen Renommee, ist einigermaßen absurd."
In der WELT schreibt Musikkritiker Manuel Brug, der Zweifel an Levits musikalischen Fähigkeiten sei "lächerlich". Außerdem sei es zwar nicht immer gescheit und überlegt, was Levit auf Twitter schreibe, einen alten längst erklärten Tweet gegen ihn zu verwenden, sei aber Instrumentalisierung. Brug kritisiert außerdem die "braungefärbte Tonlage" des SZ-Artikels. In der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" schreibt Wilhelm Sinkovicz, im Streit um Levit spiegele "die ganze Hilflosigkeit", die die Musikkritik befallen habe: "Wenn die musikalischen Argumente ausgehen, redet man über politische Gesinnungen." Sinkovicz betont die Leistung Levits, 52 Tage lang Livekonzerte via Twitter gegeben zu haben. "Am Ende des Tages wird deshalb die AfD keine Stimme weniger bekommen, aber vermutlich werden etliche Zaungäste dieser Livestreams plötzlich Beethoven für einen guten Mann halten." Auch die Kritik an Levits Klavierspiel weist Sinkovicz zurück. Es stimme, dass Levit in einer anderen Liga spiele als Daniil Trifonov. Aber im konträren Sinne: "Levit ist in seiner Generation nämlich einfach der Beste."
Am Freitagabend vergangener Woche (16. Oktober) hatte die Süddeutsche Zeitung erstmals auf die heftige Kritik am Artikel von Helmuth Mauró reagiert. Bei Twitter wurde eine Stellungnahme gepostet, worin es heißt: "Ziel des Artikels war nicht die Verunglimpfung einer Person, auch wenn er fraglos polemische Elemente enthält." Auf die Verunglimpfung des Judentums habe der Artikel nicht abgezielt. "Die von Helmut Mauro beklagte 'Opferanspruchsideologie' und das 'diffuse Weltgericht' beziehen sich nicht auf Juden oder das Judentum, sondern auf Twitter als Ort, an dem dies nach Auffassung Mauros gängige Praxis ist." Die Polemik als journalistische Form habe bei der Süddeutschen Zeitung eine lange Tradition, mitunter schieße diese Form aber über das Ziel hinaus. "Jeder und jede kann der Ansicht sein, das sei hier passiert." Diese Stellungnahme stellte viele Kommentatoren nicht zufrieden – die SZ-Chefredaktion äußerte sich wohl auch deshalb nochmal selbst (s.o.). Am 21. Oktober erschien in der SZ außerdem ein Gastbeitrag von Carolin Emcke unter dem Titel "Ich bin auch müde". Darin kritisiert die Autorin den Artikel von Helmut Mauró scharf: Der Text sei voll von antisemitischen Sprachbildern und Formulierungen.
Igor Levit selbst reagierte am Montagabend (19. Oktober) auf die anhaltende Debatte. Auf Twitter schrieb er: "Der Artikel in der SZ hat mich getroffen. Die Stellungnahme hat mich noch mehr getroffen. Am meisten hat mich die Mail des Chefredakteurs getroffen, der betont, hinter diesem Artikel zu stehen." Dem fügt Levit eine E-Mail seiner Presseagentin an den SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach bei. In dieser heißt es: "Allein der völlig unzweideutig antisemitisch konnoterte Begriff der 'Opferanspruchsideologie' soll verletzen, und dies ist auch gelungen. Herr Mauró und auch Sie persönlich werden sich damit auseinandersetzen müssen, hier antisemitischen Ressentiments Öffentlichkeit gegeben zu haben." Zur aktuellen Entschuldigung der SZ-Chefredakteure hat Levit sich bisher nicht geäußert.