Es war eine demonstrative Huldigung. Ein Zeichen des Publikums pro Thielemann. Solch eine Applaus-Eruption ist auch in Bayreuth eine Ausnahme. Noch immer ist die Zukunft von Christian Thielemann bei den Bayreuther Festspielen unklar. Thielemann entdeckt die neue Freiheit und ging heuer erstmals seit 2013 bei den Salzburger Festspielen "fremd". Mit der konzertanten "Parsifal"-Aufführung, seinem einzigen Auftritt auf dem Grünen Hügel in diesem Jahr, setzte er aber ein klares Ausrufezeichen.
Als Musikdirektor wird Christian Thielemann aller Voraussicht nach nicht mehr auf dem Grünen Hügel agieren. Aber welche Rolle soll er spielen? Welche Neuproduktion dirigieren, nachdem den "Parsifal" (die letzte Premiere, die ihm fehlt) nächstes Jahr Daniele Gatti dirigieren wird?
Lange Stille nach dem ersten Aufzug. Sehr lange. Dann zwei, drei verunsicherte Applaudeure, die kurz und knapp niedergezischt werden. Sonst nichts, in "heiliger Stille" verlässt das Publikum den Saal. Wann hat es das zuletzt gegeben? Vielleicht kamen sich viele besonders wagnerianisch vor, zugehörig zu einer verschworenen Schicksalsgemeinschaft mit dem Ex-Musikdirektor. Aber das Dirigat ließ auch nichts Anderes zu. Nicht, weil Christian Thielemann die Gralsenthüllung als Pontifikalamt zelebriert. Sondern weil er eine Intensität erreicht, eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks, genau durchdacht und doch im Moment empfunden, die betroffen macht. Dass er den berüchtigten Graben beherrscht wie kein Zweiter, ist nichts Neues. Ein vielfarbiger, agogischer Körper ist das Festspielorchester. Gefühlt hängen sie mit jeder Faser an Thielemanns Taktstock, gehen jede Verbreiterung, jedes Accelerando mit, verwandeln sich vom tönenden Körper zum erzählenden musiktheatralischen Element. So werden Vorspiele und Verwandlungsmusiken zum Ereignis, zur Musik gewordenen Szene.
Die raffinierte akustische Liveübertragung des Festspielchores beglückt dagegen nicht ganz. Die Chorszenen, besonders im Gralstempel, liegen so nackt, dass der Klang zu direkt kommt. Teilweise lassen sich Einzelstimmen heraushören, doppelchörige Effekte verpuffen. Es bleibt unverständlich, warum der Chor nicht wenigstens in dieser konzertanten Aufführung auf der Bühne singen durfte. Die Solisten postiert Thielemann weit hinten auf der Bühne, wohl damit sich der Klang besser mischt. Wenige Stühle sind das einzige Requisit, eine große Leinwand die einzige Dekoration. Der in Augsburg geborene Künstler Philipp Fürhofer zeigt dort einige Arbeiten, die nicht extra für den Parsifal entstanden sind und so angenehmerweise die Handlung nicht bebildern, sondern eine zusätzliche Metaebene schaffen.
Zwingende Rollenporträts gelingen den tiefen Stimmen. Derek Welton ist ein aggressiver, von Hass zerfressener Klingsor. Günther Groissböck tönt als Titurel-Luxusbesetzung fast zu viril aus dem Grab. Dass er als einziger Sänger nicht beim Schlussapplaus erscheint, irritiert. Wenig überraschend setzt Georg Zeppenfeld mit seinem Gurnemanz erneut Maßstäbe. Jedes Wort ist nicht nur verständlich, sondern durchdacht und bewusst gestaltet. Mit schlank geführter Stimme, aber vor allem im dritten Aufzug auch vokaler Majestät bleibt er die Idealbesetzung dieser Rolle. Fulminant ist Michael Volle als Amfortas. Seinen ersten Auftritt gestaltet er wie ein Lied, die großen Ausbrüche erschüttern Dank immenser Phonstärke und einem ansprechenden, erzenen Kern in der Stimme. Wenn Volle "Erbarmen" singt, dann trifft das ins Mark. Da braucht es keine Szene. In Bayreuther Bildern gesprochen, ist er die neue Varnay. Nicht nur wegen dieses "Parsifal" sollte sich die Festspielleitung genau überlegen, wie sie Thielemann weiter ans Haus bindet. Nach den Reaktionen des Publikums zu urteilen, ließe sich Loriots Spruch abwandeln: Ein Bayreuth ohne Thielemann ist möglich, aber sinnlos.
Sendung: "Allegro" am 11. August 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK