Der Mythos der selbstlosen Sünderin: Vor diesem Hintergrund ist die "Kameliendame" von Alexandre Dumas zu sehen, und ebenso die Violetta im Opern-Evergreen "La Traviata" von Giuseppe Verdi. Doch was interessiert einen Regisseur wie Simon Stone an dieser populären Bühnenfigur? Seine Inszenierung machte schon vor eineinhalb Jahren in Paris Schlagzeilen. Inzwischen ist die leicht modifizierte Regiearbeit an die Wiener Staatsoper gewandert: in veränderter Besetzung. Nur die Südafrikanerin Pretty Yende blieb Violetta. Am 7. März 2021 wurde live gestreamt.
Paris als Stadt des schönen Scheins, Metropole der glitzernden Fassaden. In Smoking und Cocktailkleid tanzt die Hautevolee um eine Champagnerglas-Pyramide. Violetta ist Edelprostituierte, Popstar, Werbe-Ikone mit eigener Parfum-Linie. Sie ist Influencerin, lebt in einer Instagram-Welt, hat Millionen Follower auf den Social-Media-Kanälen. Regisseur Simon Stone wirft Text- und Bildnachrichten im Übermaß an die Wand. Dazu bühnenhohe, hyperrealistische, zum Teil experimentelle Videosequenzen. Inzwischen beherrschen sie alle möglichen Opernproduktionen, aber selten so chic.
Um das klar zu machen, arbeitet Simon Stone im ersten Bild des 2. Akts – der eigentlich kontrastierenden Szene des Stücks – optisch mit derselben sterilen Glätte wie zuvor und danach. Der Traktor wirkt viel zu groß, die Kapelle viel zu klein. Beide wirken als Fremdkörper vor solchem Hochglanz-Ambiente. Die Message des Regisseurs lautet: Für Violetta ist alles zu spät! Sie scheitert an ihrer Unfähigkeit, die Macht der Gewohnheit zu überlisten. Daran, dass sie aus dem Hang und Zwang zur eigenen Vernetzung und Vermarktung nicht herausfindet.
Dazu kommt, wie in jeder "Traviata"-Inszenierung, der Standesdünkel, die sogenannte Familienehre des Schwiegervaters in spe: Was hat eine Frau aus unteren Schichten im Privatleben einflussreicher Kreise verloren? Diesmal könnte man meinen: Das Paar Violetta-Alfredo ähnelt sogar dem Paar Meghan-Harry.
Top-Star Juan Diego Flórez zehrt als Alfredo von seiner frisch erworbenen Fähigkeit zu stimmlicher Attacke: Erst während der letzten Jahre driftet er vom "tenore di grazia" in ein benachbartes Fach: "lirico-spinto". Und wo sein Instrument die altbekannte Leichtgängigkeit liefern muss – nach wie vor kein Problem für Flórez! Demgegenüber muss der alte Germont eigentlich immer nur Legato singen, Bögen spannen: Das kann der russische Bariton Igor Golovatenko. Die Sensibilität des Tenor-Kollegen lässt er dabei nicht walten. Aber das passt zum Charakter des Vaters.
Sendung: "Allegro" am 8. März 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK