Im Juni 2017 debütierte Jonas Kaufmann in London als Otello in Giuseppe Verdis gleichnamiger Oper, jetzt singt der 49-jährige Startenor die mörderische Partie in einer Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper – mit heldischer Kraft und hauchzarten Tönen.
Von Anfang an zeigt Regisseurin Amélie Niermeyer den Titelhelden nicht als strahlenden Sieger: Otello ist bei ihr ein einfacher Offizier, später dann ein Durchschnittsmensch im Büro-Outfit mit Hosenträgern. Jonas Kaufmanns Lockenpracht ist einem brav gescheitelten Kurzhaarschnitt gewichen. Blackfacing verbietet sich heute sowieso. Niermeyer inszeniert die Beziehung zwischen Otello und Desdemona als Szenen einer Ehe, die gründlich schiefgeht. Sie tut das mit einer ausgefeilten Personenregie, mit vielen Details und einem genauen Blick auf die Geschlechter.
In der richtigen Erkenntnis, dass Verdis "Otello" im Kern ein Kammerspiel ist, hat ihr Bühnenbildner Christian Schmidt für alle Szenen einen variablen Zwanziger-Jahre-Salon mit Kamin und hohen Fenstern gebaut, der immer wieder andere Raumperspektiven eröffnet – im Stil eine Mischung aus Psychiatrie und dem kalten Ambiente der Münchner Musikhochschule.
Die Kostüme von Annelies Vanlaere sind zeitlos heutig, Jago kommt leger in T-Shirt und Sneakers daher. Kein Bilderbuch-Fiesling, eher ein kumpelhafter Typ. Nicht nur daran liegt es, dass der Intrigant hier wenig dämonisch wirkt: Mit dem Kanadier Gerald Finley ist der Jago gegen die Konvention mit einem leichteren Bariton von sonorem Wohlklang besetzt. Im nihilistischen "Credo" des Jago geht Finley dann aber doch ein wenig die dramatische Schwärze ab.
Trotzdem spürte man, auch im Vergleich zu Kaufmanns Londoner Otello-Debüt: Da geht noch mehr in den Folgevorstellungen, wenn der Premierendruck weg ist. Wie immer trägt Kirill Petrenko seine Sänger auf Händen, atmet mit ihnen, sorgt in den Ensembles und in der Koordination mit dem stimmgewaltigen Staatsopernchor für beispiellose Präzision. Überhaupt, was Petrenko beim späten Verdi aus seinem Staatsorchester an Klangfarben herausholt, ist wieder einmal enorm: Das reicht von bodenlos fahlen, fast impressionistischen Klängen bis zu messerscharfen Attacken.
Liebevoll zeichnet Petrenko musikalische Phrasen nach, was vor allem von Anja Harteros dankbar aufgegriffen wird. Hatte Verdi einmal mit dem Titel "Jago" für seine Oper gespielt, so könnte sie bei Amélie Niermeyer "Desdemona" heißen. Auch wenn man sich fragt, wieso Desdemona ausgerechnet diesem Normalo und Weichei verfällt. Ein Otello müsste doch auch etwas von einem Macho und Kriegsherrn haben, erotische Ausstrahlung, Charisma. Dafür ist Anja Harteros hier eine stolze, selbstbewusste Frau, die immer auf der Bühne präsent ist – auch wenn sie nicht singt. Und wenn sie das tut, überstrahlt sie mit ihrem flutenden Timbre, ihrer gurrenden Tiefe und ihrer lyrischen Noblesse alle anderen – ein Elementarereignis.
Sendung: "Piazza" am 24. November ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK