Manchmal sind die Erwartungen an eine Premiere übergroß. Bei diesem "Tristan" kommt einiges zusammen: Die letzte Produktion der Ära von Staatsintendant Nikolaus Bachler. Kirill Petrenkos Abschied von München. Die Hauptrollen luxuriös besetzt mit dem gern als "Münchner Operntraumpaar" angepriesenen Starduo Anja Harteros und Jonas Kaufmann. Und dann auch noch ein doppeltes Rollendebut. Am Ort der Uraufführung.
Zumindest musikalisch hat der Abend nicht enttäuscht, auch wenn gesanglich Wünsche offen bleiben. Nicht so bei Dirigent und Orchester: Kirill Petrenko ist der derzeit größte Wagner-Dirigent. Er peitscht auf und hypnotisiert, er staucht und dehnt die Zeit, lässt Details funkeln und verliert nie den großen Bogen aus dem Auge. Das Bayerische Staatsorchester hat er zu einem Weltklasse-Ensemble geformt, das keinen Vergleich scheuen muss. Und je mehr die Regie das Bühnengeschehen veröden lässt, desto farbiger werden die Bilder, die das Orchester vors innere Auge ruft.
Regisseur Krzysztof Warlikowski, der sich sonst gelegentlich in surrealen Rätselbildern verzettelt, manchmal aber auch in fesselnde Bedeutungs-Labyrinthe lockt, setzt diesmal ganz auf Reduktion. Das Einheitsbühnenbild zeigt einen holzgetäfelten Innenraum im Art-Deco-Stil. Auch die Kostüme sehen nach 20er Jahren aus – wobei diese Zeitebene letztlich völlig beliebig bleibt. Es passiert wenig, was ja zunächst mal durchaus passt zu dieser höchst seltsamen Oper. Wagner gab ihr den geradezu provozierenden Untertitel "Handlung in drei Aufzügen" – als wäre die Handlung ausgerechnet in diesem Stück die Hauptsache! Jedenfalls nicht die äußere Handlung: Es geht zwar um entgrenzte Liebe, das aber in durchaus theoretischer Form. Wenn das Liebespaar endlich mal ungestört ist und sich der "Raserei" (Wagner) hingeben kann, tut es genau das nicht. Stattdessen verlieren sich Tristan und Isolde in spitzfindigen poetisch-philosophischen Erörterungen über Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit, Leben und Sterben.
Und stattdessen lieber bewundern, wie exzellent hier gesungen wird: Vor allem den energiegeladenen Wolfgang Koch (Kurwenal) und die großartige, in allen Lagen mühelos präsente Okka von der Damerau (Brangäne). Voluminös, makellos stimmschön, aber etwas glatt gestaltet Mika Kares den betrogenen König Marke.
Noch etwas zwiespältig fällt die Bilanz bei Anja Harteros aus: Ihr Debut als Isolde verdient größten Respekt. Fantastisch ist sie vor allem im ersten Akt. Harteros ist ja mit ihrer schlanken, großen Gestalt absolut eine Erscheinung auf der Bühne, aber keine geborene Schauspielerin. Umso faszinierender gelingt es ihr mit der Stimme, den psychologischen Reichtum dieser Figur zu zeichnen: Mit hellen und dunklen Farben macht sie die mühsam zurückgehaltene Wut hörbar, die in Isolde brodelt, die Ironie und den Hohn – und die zerstörerische Liebesenergie, die nur darauf wartet, endlich loszubrechen. Was Harteros in den eher leisen Stellen verspricht, kann sie jedoch in den großen Ausbrüchen noch nicht halten: Ausgerechnet beim berühmten Liebestod am Schluss stören Intonationstrübungen die ganz große Wirkung. Das mag der Nervosität zuzuschreiben sein – gut möglich, dass schon der zweite Abend rundum gelingt.
Die Premiere unter der Leitung von Kirill Petrenko war am Dienstag, 29. Juni 202; alle Folgevorstellungen während der Festspiele sind ausverkauft. Denn nur ungefähr die Hälfte der Plätze durfte verkauft werden, das Publikum sitzt im Schachbrettmuster. Doch am 31. Juli ist die Oper live aus dem Nationaltheater bei "Oper für alle" zu erleben: Ab 17.00 Uhr in einer Direktübertragung auf den Marstallplatz.
Sendung: "Allegro" am 2. Juli 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK