Wahrscheinlich wäre die Welt besser, wenn die Menschen nach innen genau so scharf sehen könnten wie nach außen, doch dafür gibt´s bekanntlich keine Brillen. In Peter Tschaikowskys selten gespielter, letzter Oper "Iolanta" geht es somit im doppelten Sinne um Blindheit.
Die titelgebende Prinzessin kann seit ihrer Geburt nicht sehen, aber weil ihr das niemand sagt, hält sie ihre Sinneswahrnehmung für völlig normal. Erst ein Ritter klärt sie darüber auf, was das eigentlich ist: Licht und Farbe. Da steckt natürlich jede Menge Psychologie drin, auch Philosophie und Religion, denn bei Tschaikowsky geht es um Gotteslob und Gotteserkenntnis, um das, was die Seele sieht, nicht das, was die Augen wahrnehmen. Und schon im "Kleinen Prinzen" heißt es ja: "Man sieht nur mit dem Herzen gut".
Bei Axel Ranisch werden beide Stücke nicht etwa hintereinander aufgeführt, sondern durcheinander: Strawinskys "Mavra" als Puppenspiel, mit dem sich Prinzessin Iolanta von ihren Sorgen ablenkt. Und um die Verwirrung perfekt zu machen, werden am Ende aus den Puppen Menschen, aus den Menschen Puppen, auch hier also wieder ein Perspektivwechsel und die Frage, wer mehr Seele hat, die lustigen Pappfiguren oder die steife Hofgesellschaft. Es macht Spaß, diesem kunterbunten Reigen zu folgen. Ausstatter Falko Herold hatte eine Art Dornröschen-Schloss entworfen, in dem langmähnige, ergraute Musiker vor sich hin dösen. Vom Himmel regnen Rosenblätter, Riesen-Tulpen stehen für Üppigkeit, ein Zauberreich voller optischer und seelischer Täuschungen.
Die russische Dirigentin Alevtina Ioffe lässt fast die Logen vibrieren, so mächtig trumpft sie auf. Da wäre weniger mehr gewesen, zumal die Bilder so feinsinnig und schattenhaft waren. Optischer Impressionismus traf auf musikalischen Expressionismus, leise auf laut, was nicht durchgehend harmonierte. Von den zahlreichen Solisten überzeugten die estländische Sopranistin Mirjam Mesak als Iolanta und der finnische Bass Markus Suihkonen als sonorer König. Aber auch der junge chinesische Tenor Long Long als Ritter Vaudémont und der türkische Bariton Oğulcan Yılmaz als arabischer Arzt Ibn-Hakia waren mit viel Emphase bei der Sache. Ein kluger, nachdenklicher und herzerwärmender Abend mit Tschaikowsky und Strawinsky. Sehr freundlicher Beifall.
Weitere Aufführungen sind am 18., 20., 22., 25. und 28. April
Sendung: "Allegro" am 16. April 2019 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK