Pointiert, humorvoll und berührend menschlich: Der "Tannhäuser" war 2019 das Ereignis der Bayreuther Festspiele. Nun wurde die von der Kritik umjubelte Inszenierung von Regisseur Tobias Kratzer wieder aufgenommen. Mit dabei waren einige Neulinge – auf der Bühne und im Graben. Neben Günther Groissböck, der dieses Jahr bislang vor allem durch seine Absage des Wotans von sich Reden machte, sang endlich auch Ekaterina Gubanova, die eigentlich schon vor zwei Jahren auf der Besetzungsliste stand. Ein Glück – meint BR-KLASSIK Redakteur Fridemann Leipold.
Endlich konnte sie zeigen, was in ihr steckt, die russische Vollblutsängerin Ekaterina Gubanova. Bei der Bayreuther "Tannhäuser"-Neuproduktion vor zwei Jahren war sie als Venus besetzt, konnte die Premiere wegen einer Bühnenverletzung dann aber nicht singen. Jetzt triumphierte sie als Pussy Riot-Girl, blondiert, schwarzbestrasst, mit flutender vokaler Fülle und jeder Menge Sex-Appeal. Eine tolle Performance lieferte Gubanova auch in der ersten Pause am Seerosenteich ab, zusammen mit Oskar, dem auf einem Schlauchboot paddelnden Trommler, und der auf einem Steg gefährlich hochhackig tänzelnden Dragqueen Kyle Patrick.
Und der andere Neuling in der "Tannhäuser"-Wiederaufnahme? Erst knapp vor Beginn der Festspiele hatte der österreichische Bassist Günther Groissböck völlig überraschend seinen Rückzug von der Wotan-Partie bekanntgegeben – für die "Walküre" in diesem Sommer, aber auch für den kompletten neuen "Ring" 2022. In der Generalprobe der neuen "Walküre" habe er seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt. Halb sei er gegangen, halb gegangen worden, munkelt man in Bayreuth. Aber den Landgrafen Hermann hat er nun wie geplant gesungen – und mit Anstand bewältigt. Dennoch wirkt Groissböck stimmlich angeschlagen, unausgeglichen in den Registern, matt in der Tiefe. Vielleicht auch nicht sein Ding, so eine staatstragende Herrscherfigur, gerade wenn man seinen elegant-schmierigen Ochs aus dem "Rosenkavalier" im Ohr hat.
Beide Neuzugänge fügten sich engagiert in das hintersinnige Regiekonzept von Tobias Kratzer. Der lässt die schräge Truppe um Venus und Tannhäuser mit der starren Wartburg-Gesellschaft kollidieren. Szene-Künstler treffen da auf Kultur-Konservative. Ihre Parole "frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen" haben sie wortwörtlich vom Revoluzzer Wagner geklaut. Raffiniert ist die Verschränkung von Film, Live-Kamera und realem Bühnengeschehen. Da ist dem Video-Designer Manuel Braun ein seltener Coup gelungen.
Im zweiten Akt hat Ausstatter Rainer Sellmaier den Wartburg-Saal nachgebaut, horizontal darüber verfolgt man atemlos im Video, wie Venus und ihre Bagage das Festspielhaus kapern und Katharina Wagner die Polizei holt. Kratzer choreografiert das entsprechend zweigleisig, den Sängerkrieg altbacken steif à la Wolfgang Wagner, die Okkupation des Allerheiligsten als Krimi in Schwarz-Weiß. Virtuos spielt Kratzer mit der Bayreuther Aufführungstradition, mischt Bedeutungsebenen und stellt eingefahrene Rollenprofile infrage.
Es wäre aber zu kurz gegriffen, Kratzers Inszenierungsansatz auf "Subkultur versus Hochkultur" zu reduzieren. Es geht um mehr, um unterschiedliche Lebensmodelle. Tannhäuser kann sich nicht entscheiden, immer ist er der Outsider: Erst hat er den Zirkel der Minnesänger verlassen, dann steigt er fluchtartig aus dem Lieferwagen der Venus, mit dem sie durch den Thüringer Wald auf die Wartburg zusteuern, Corona-Test auf freier Strecke inklusive. Das kann nicht gutgehen. In der aschfahlen Todeszone des dritten Aktes lässt Kratzer die tragische Liebesgeschichte zwischen Wolfram und Elisabeth eiskalt enden: mit einem Quickie im Citroën. Elisabeth schlitzt sich die Pulsadern auf, der Heimkehrer Tannhäuser nimmt die Tote zärtlich in seine Arme – eine moderne Pietà. Sein Traum zum Schluss: mit ihr im Citroën auf der Fahrt in ein freies Leben, das wär’s doch …
Mit Axel Kober stand ein Bayreuth-Routinier im Graben am Pult, der die akustischen Tücken des Hauses kennt und seine Sänger auf Händen trägt. Mit den zugespielten Chören hatte er es naturgemäß nicht leicht. Aber die Koordination des gesamten Apparats hatte Kober gut im Griff. Gestochen scharf kamen die Einsätze zum jeweiligen Aktbeginn. Am besten gelang ihm der dritte Akt mit seinen schwerblütigen Lyrismen. Da können die samtigen Streicher und das weiche Blech des Bayreuther Festspielorchesters ihre gerühmten Qualitäten ausspielen.
Ein enorm unterhaltsamer "Tannhäuser", urkomisch und abgründig, queer und divers. Getragen von großartigen Sängerdarstellern, allen voran Lise Davidsen als Elisabeth. Diese hochdramatische Sopranistin aus dem hohen Norden ist mit ihrer machtvollen Stimme ein Naturereignis – endlich wieder eine Wagner-Heroine à la Birgit Nilsson! Stephen Gould ist immer noch eine sichere Bank in der mörderischen Titelpartie. Mit seinem kernigen Timbre stemmt Gould seine Spitzentöne kraftvoll in den Raum, eher grob als schön. Die Palme aber gebührt dem Wolfram des Markus Eiche: balsamischer Wohlklang, Phrasierungsintelligenz, Textausdeutung – da stimmt einfach alles! Und Eiche führt einen zutiefst leidenden, zerrissenen Menschen vor. Kann Oper mehr leisten?
Sendung: "Allegro" am 28. Juli 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK