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Kritik: Christian Gerhaher an der Wiener Staatsoper Wozzeck ist arbeitslos

Die Wiener Staatsoper war lange eine Insel der Seligen – zumindest für diejenigen, die keine spannende Regie mögen. Doch selbst in Wien drehen sich die Uhren weiter. Der neue Intendant Bogdan Roščić hat dem luxuriösen Traditionshaus eine Zeitenwende verordnet: Er will die Wiener Opernfans für modernes Regietheater begeistern. Gestern hatte Alban Bergs "Wozzeck" in Wien Premiere, inszeniert von Simon Stone. In der Hauptrolle: Christian Gerhaher.

Opernkritik: "Wozzeck" mit Christian Gerhaher in Wien

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Aktualität und ihre Probleme

"Aktualisierung" - so nennt man das gern, wenn Regisseure eine Opernhandlung in die Gegenwart verlegen. Das Wort hat allerdings seine Tücken: Manchmal verändert sich die Gegenwart so schnell, dass am Premierentag plötzlich Dinge aktuell sind, die noch während der Konzeption der Inszenierung längst überwunden zu sein schienen. Krieg in Europa zum Beispiel.

Armut statt Krieg

Regisseur Simon Stone richtet den Blick auf die Armut, nicht auf den Krieg. | Bildquelle: © Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn Als Alban Berg seine Oper begann, im Jahr 1914, herrschte in Europa Krieg. Und natürlich erzählt der "Wozzeck" davon. Büchners Drama und Bergs Oper wimmeln von Soldaten. In der neuen Wiener Inszenierung von Simon Stone gibt es keine. Der Krieg schien ja auch bis vor kurzem kein aktueller Teil unserer Realität zu sein: doch nicht hier, doch nicht in Europa. Wenn Stone die Handlung ins Wien der Gegenwart verlegt, richtet er deshalb den Scheinwerfer auf das andere große Thema der Oper: die Armut – und das, was sie aus Menschen macht.

Inszenierung: Sozialstudie, aber nicht nur

Seine Verschwörungstheorien denkt sich Wozzeck beim Schlangestehen vor dem Arbeitsamt aus, Marie wohnt in einer Sozialwohnung, die schlafenden Soldaten sind Obdachlose in der Wiener U-Bahnstation Simmering und der Tambourmajor ist ein prügelnder österreichischer Polizist. Das alles ist scharf beobachtet mit grellem Realismus. Waschmaschine, Würstelbude, Altkleidercontainer: Gegenwart. Aber die Regie erschöpft sich nicht in einer Sozialstudie.

Bühnenbild: surreal und doch real

Das Bühnenbild schwebt zwischen Realismus und Phantasie: mal klinisch weiß, mal eine nächtliche Sumpflandschaft. | Bildquelle: © Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn Klinisch weiß gekachelte Wände engen buchstäblich den Handlungsspielraum ein, drehen sich unermüdlich und zwingen die Figuren ins Hamsterrad eines spätkapitalistischen Kampfs ums Dasein. Und je weiter Wozzeck, dieser gequälte Außenseiter, in die Enge und in den Wahnsinn getrieben wird, desto surrealer werden die Bilder. Die Wirtshausszene ist ein Alptraum-Fasching mit quietschbunten Tierkostümen, nur Wozzeck ist eine graue Maus. Dann öffnet sich der Raum auf eine nächtliche Sumpflandschaft: Hier ermordet Wozzeck seine Freundin, hier ertrinkt er, hier findet die Polizei seinen Leichnam, der baumelnd in den Bühnenhimmel schwebt. Was als Sozial-Reportage über Armut in der Überflussgesellschaft begann, verwandelt sich in ein rätselhaftes Requiem, in dem sich Realismus und Phantasie gekonnt die Waage halten.

Christian Gerhaher als Idealbesetzung

Marie, gesungen von Anja Kampe, ist eine geerdete Frau, glaubwürdig in ihrer Zerrissenheit. Kampe gestaltet mit großer Intensität – keine Stimme, in die man sich verliebt, aber eine, die jeden Augenblick fesselt. Auch die übrigen Solisten sind exzellent, vor allem Dmitriy Belosselskiy als Doktor mit schwarzem, bösen Bass. Alle Aggression zieht der Verlierer auf sich, Wozzeck, geknickt, fahrig, ungelenk: Christian Gerhaher ist eine Idealbesetzung. Fast beängstigend wirkt seine Identifikation mit dieser psychisch verwundeten Figur. Der er trotz allem verführerisch schöne Bariton-Lyrik schenkt, aber auch Apathie, Wut und Angst.

Scharfe Kontraste im Orchester

Um Armut und Krieg geht es in Alban Bergs Oper. Die Bühne zeigt nur die Armut, die ja an bedrängender Aktualität durch den Krieg nichts verloren hat. Aber im Orchestergraben erzählt die Musik davon, was Berg als Soldat erleben musste: Dirigent Philippe Jordan wählt scharfe Kontraste, beschönigt nichts, leuchtet grell aus, großartig gespielt von den Wiener Philharmonikern. Ein toller Abend. Die Wiener Staatsoper, die so lange auf Retroregie abonniert war, könnte sich zu einem richtig interessanten Haus entwickeln.

Sendung: "Allegro" am 22. März 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK