Die Wiener Staatsoper war lange eine Insel der Seligen – zumindest für diejenigen, die keine spannende Regie mögen. Doch selbst in Wien drehen sich die Uhren weiter. Der neue Intendant Bogdan Roščić hat dem luxuriösen Traditionshaus eine Zeitenwende verordnet: Er will die Wiener Opernfans für modernes Regietheater begeistern. Gestern hatte Alban Bergs "Wozzeck" in Wien Premiere, inszeniert von Simon Stone. In der Hauptrolle: Christian Gerhaher.
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"Aktualisierung" - so nennt man das gern, wenn Regisseure eine Opernhandlung in die Gegenwart verlegen. Das Wort hat allerdings seine Tücken: Manchmal verändert sich die Gegenwart so schnell, dass am Premierentag plötzlich Dinge aktuell sind, die noch während der Konzeption der Inszenierung längst überwunden zu sein schienen. Krieg in Europa zum Beispiel.
Seine Verschwörungstheorien denkt sich Wozzeck beim Schlangestehen vor dem Arbeitsamt aus, Marie wohnt in einer Sozialwohnung, die schlafenden Soldaten sind Obdachlose in der Wiener U-Bahnstation Simmering und der Tambourmajor ist ein prügelnder österreichischer Polizist. Das alles ist scharf beobachtet mit grellem Realismus. Waschmaschine, Würstelbude, Altkleidercontainer: Gegenwart. Aber die Regie erschöpft sich nicht in einer Sozialstudie.
Marie, gesungen von Anja Kampe, ist eine geerdete Frau, glaubwürdig in ihrer Zerrissenheit. Kampe gestaltet mit großer Intensität – keine Stimme, in die man sich verliebt, aber eine, die jeden Augenblick fesselt. Auch die übrigen Solisten sind exzellent, vor allem Dmitriy Belosselskiy als Doktor mit schwarzem, bösen Bass. Alle Aggression zieht der Verlierer auf sich, Wozzeck, geknickt, fahrig, ungelenk: Christian Gerhaher ist eine Idealbesetzung. Fast beängstigend wirkt seine Identifikation mit dieser psychisch verwundeten Figur. Der er trotz allem verführerisch schöne Bariton-Lyrik schenkt, aber auch Apathie, Wut und Angst.
Um Armut und Krieg geht es in Alban Bergs Oper. Die Bühne zeigt nur die Armut, die ja an bedrängender Aktualität durch den Krieg nichts verloren hat. Aber im Orchestergraben erzählt die Musik davon, was Berg als Soldat erleben musste: Dirigent Philippe Jordan wählt scharfe Kontraste, beschönigt nichts, leuchtet grell aus, großartig gespielt von den Wiener Philharmonikern. Ein toller Abend. Die Wiener Staatsoper, die so lange auf Retroregie abonniert war, könnte sich zu einem richtig interessanten Haus entwickeln.
Sendung: "Allegro" am 22. März 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK