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Kritik – Monteverdis "L'Orfeo" in Nürnberg Und plötzlich kippt die Stimmung

Für den Nürnberger Intendanten Jens-Daniel Herzog ist es das Stück der Stunde, weil hier aus einer Party innerhalb von Sekunden eine Totenklage wird – ein treffendes Gleichnis auf den Zustand der Welt vor und in der Pandemie. Am 2. Oktober feierte Monteverdis "L'Orfeo" am Staatstheater Nürnberg Premiere, die musikalische Leitung hatte Joana Mallwitz.

Bildquelle: © Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg

Wer wollte dem Nürnberger Opernintendanten Jens-Daniel Herzog da widersprechen: Ja, unsere Welt hat sich von einem Augenblick zum nächsten völlig verändert. Übervolle Flughäfen sind plötzlich leer, Urlaubsparadiese ausgestorben, Einkaufszentren wenig besucht, Theater schütter besetzt. Und genau so eine urplötzliche Schicksalswende, ja so einen Wettersturz beschreibt Claudio Monteverdi in seinem "L' Orfeo", mit dem die Operngeschichte am 24. Februar 1607 in Mantua eigentlich ihren Anfang nahm. Auch, wenn es natürlich schon vorher ein paar derartige Versuche gegeben hatte, Musik und Schauspiel miteinander zu verbinden.

Corona-Pandemie auf einer LED-Wand

Martin Platz (Orfeo), Julia Grüter (Euridice), Ensemble Staatstheater Nürnberg | Bildquelle: © Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg

Monteverdi ließ es sich nicht nehmen, seine Oper mit festlichen Fanfaren zu beginnen, schließlich feiert der titelgebende Orpheus seine Hochzeit mit Eurydike, und zwar wild und üppig. Doch dann wird die Frau mitten im Party-Trubel von einer Schlange gebissen und stirbt. In Sekunden kippt die Stimmung von Ausgelassenheit in Verzweiflung. Regisseur Herzog und sein Videogestalter Stefan Bischoff zitieren dabei auf einer LED-Wand deutlich, aber nicht aufdringlich die Wirkung der Corona-Pandemie: Ein Leichensack wird über den Boden geschleift, eine Kamera fährt Massengräber ab, in einer U-Bahn gehen Desinfektionstrupps ihrer Arbeit nach.

Triste, schaurige Welt. Und wozu das alles? Bei Monteverdi ist die Antwort eindeutig: Der Mensch soll es im Glück wie im Unglück nicht übertreiben, soll niemals seinen Instinkten folgen, ja nicht mal seinem Herzen, sondern im Zweifel der Vernunft. Klar, diese Botschaft richtete sich damals, 1607, an die Mächtigen, die verwöhnten, gebildeten Dandys bei Hofe, denen die segensreiche Wirkung von Maß und Mitte vorgeführt werden sollte.

Orpheus lernt das Machbare

Martin Platz (Orfeo) | Bildquelle: © Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg

Und deshalb holt Orpheus seine tote Eurydike auch nicht aus der Unterwelt zurück, sondern fährt ohne sie zum Himmel auf. Anders ausgedrückt: Er wird zum hoffentlich weisen Herrscher, der das Mögliche vom Unmöglichen mühsam zu unterscheiden und somit das "Machbare" lernt. Eindrucksvoll, wie das Nürnberger Staatstheater diese Bedeutungsebenen zum Auftakt der neuen Spielzeit ohne viel äußeren Aufwand verständlich machte. Ausstatter Mathis Neidhardt braucht außer der LED-Wand im Hintergrund nur einen langen Tisch – erst die bunte Hochzeitstafel von Orpheus und seinen Gästen, dann der düstere Ort, an dem Pluto und seine Frau Proserpina lustlos schmausen. In all dieser Düsternis bleibt die Liebe zwar auf der Strecke, aber die Ironie erweist sich als unsterblich. Orpheus singt den Fährmann Charon in den Schlaf, diese Art Entspannung steht also schon ganz am Anfang der Operngeschichte. Und der Papa von Orpheus, Gott Apoll, meldet sich per Smartphone, um seinem Sohn die weltlichen Flausen auszutreiben und in den Himmel zurückzurufen.

Aufgefrischte Opernfassung von Joana Mallwitz und Frank Löhr

Martin Platz (Orfeo), Andromahi Raptis (Eco) | Bildquelle: © Ludwig Olah/Staatstheater Nürnberg

Das alles ist poetisch erzählt, erlesen bebildert und auch akustisch von außergewöhnlichem Reiz, denn Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz und Komponist Frank Löhr haben eine neue, allerdings um etwa dreißig Minuten gekürzte Fassung gezimmert, die Monteverdis höfische, vom Renaissance-Tanz geprägte Musik ordentlich auffrischt – "unerhört" im eigentlichen Sinn des Wortes. Da ist alles dabei, von einer Bigband-Einlage, vom Wummern eines Herzschlags, von Hollywood-Opulenz, von atonaler Provokation, kurz und gut: Die beiden jagen einmal quer durch die Musikgeschichte, auch, was die Instrumente angeht. Da mag es manchen Fan der Alten Musik schaudern, es war dennoch ein Hörabenteuer. Amüsant der Kontrast zwischen den ruhig fließenden Bewegungen von Joana Mallwitz und dem oft rauen, ja rockigen Klangbild mit Anleihen beim Horrorfilm.

Starker Auftakt

Das rundete sich auch deshalb zu einem großen Erfolg, weil Martin Platz ein jederzeit überzeugender Orpheus war: Kein abgedrehter Großkünstler, sondern ein lebenspraller, zunächst leichtfertiger Kerl, der zu einem ausgeglichenen Mann heranreift. Ebenfalls stimmlich beachtlich: Nicolai Karnolsky als Pluto und Andromahi Raptis als personifizierte Musik. Julia Grüter als Eurydike hatte in dieser etwas undankbaren Rolle vergleichsweise wenig Entfaltungs-Möglichkeiten, denn als Untote singt und spielt es sich eben doch sehr reduziert. Aber letztlich war es eine eminente Ensemble-Leistung, da alle Mitwirkenden nicht nur zu singen, sondern auch die Choreographie vom Ramses Sigl zu tanzen hatten. Ein starker, beglückender Auftakt in eine hoffentlich weiterhin spannende Spielzeit.

Sendung: "Piazza" am 3. Oktober 2020 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK