György Ligetis moderner Klassiker von 1976 begann in der Semperoper zwar mit viel Geschrei, erwies sich jedoch als überraschend harmlos und wenig witzig. Vom Regisseur Calixto Bieito hatten sich viele mehr Provokation erwartet. Dafür gab es Nussnougat-Creme und anatomische Großaufnahmen. Das Publikum reagierte bei der Premiere in Dresden freundlich.
Jetzt brüllen sie in der Dresdener Semperoper schon herum, bevor der Dirigent überhaupt den Taktstock gehoben hat! Das war ja zu erwarten, mag der eine oder andere angereiste Zuschauer da im ersten Schreckmoment gedacht haben: Da steht ein modernes Stück auf dem Spielplan, da ist sehr befremdliche Musik mit Trillerpfeifen und Sirenen zu hören, und schon rebellieren die konservativen Abonnenten, schreien in dieser AfD-Metropole lauthals ihren Unmut heraus.
Keiner traute sich mehr, Unmut zu äußern
Respekt im Bademantel
Klar, dass Calixto Bieito seine Krawalljahre längst hinter sich hat, das war vorher bekannt, aber etwas mehr Biss hätte diese Produktion schon haben können. Spötter werden sagen, "Le Grand Macabre" ist eine Art "Brandner Kaspar" für Intellektuelle, tritt doch auch hier der Tod auf, oder jedenfalls einer, der mit dieser Rolle kokettiert und als Angst einflößender "Nekrotzar" herumläuft. Er verschafft sich im Bademantel ordentlich Respekt und besorgt sich devote Gehilfen, und auch er nascht etwas zu viel am Rotwein, weshalb das mit dem Weltuntergang und dem Massensterben dann doch nicht so klappt wie geplant.
Schwebender Riesen-Plastikball
Eine Groteske, natürlich, grell, ordinär, wüst, bösartig, geschmacklos. Es wird viel geflucht, es wird mit Nussnougat-Creme und Blut hantiert, es werden von Ausstatterin Rebecca Ringst allerlei körperliche Groß- und Innenaufnahmen eingesetzt, die alle nur beweisen, dass wir alle nun mal aus Schlamm und Schleim bestehen: Ein Blick aufs klopfende Herz, auf Bauchnabel und Hintern, auf Mund, Zunge und Nase, auch auf Gustave Courbets intimes Gemälde vom "Ursprung der Welt". Und in der Mitte der Bühne schwebt ein Riesen-Plastikball, dem allmählich die Luft ausgeht: Der ist mal der Planet Erde, mal Discokugel, mal Flammenzeichen. Der alte Erweckungsspruch "Kehret um!" wird hier zur Farce, wird lächerlich gemacht, und die Botschaft am Schluss heißt keineswegs Demut, ganz im Gegenteil: Der Tod ist zwar leider unüberwindlich, aber solange er noch nicht da ist, lebt so heiter und ausgelassen, wie es eben geht.
Kubricks Kino-Baby als Insider-Gag
Fehlende Aggression
Musikalisch ist "Le Grand Macabre" trotz seiner Kürze eine Herkulesaufgabe, der sich Dirigent Omer Meir Wellber mit der Sächsischen Staatskapelle mutig stellte. Allerdings fehlte auch ihnen die wilde Lust am Persiflieren, das Anarchische: So lässt Ligeti an der Stelle, wo von Verfassungen die Rede ist, im Orchestergraben Papier zerreißen. Das hörte sich in Dresden so sanft und vorsichtig an, als ob dabei eine Nagelschere zum Einsatz kam. Mehr Aggression hätte insgesamt nicht geschadet.
Von dummdreist bis sinnenfroh
Unter den Solisten begeisterte vor allem Iris Vermillion als bösartige und liebeshungrige Megäre Mescalina, auch Markus Marquardt als schrulliger Unheilsverkünder Nekrotzar war jederzeit glaubwürdig. Christopher Ainslie als dummdreister, verwöhnter Prinz Go-Go war eindeutig zu wenig herrschsüchtig, Gerhard Siegel als sinnenfroher Trinker "Piet vom Fass" eine Spur zu wohlerzogen. Freundlicher Beifall für diesen modernen Klassiker.
Informationen zu Vorverkauf, Besetzung und Terminen erhalten Sie auf der Homepage der Semperoper.
Sendung: "Leporello" am 4. November 2019 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK