In sechs Wochen hat Vincenzo Bellini seine Oper "Norma" 1831 aufs Papier gebracht, hingerissen vom dramatischen Stoff. Die Titelheldin kämpft um ihre Liebe - letztlich vergeblich: In Nürnberg wird ihr ein Bonsai-Baum zum Verhängnis.
Vorsicht, wenn der Bonsai-Baum unkontrolliert wächst - dann droht Gefahr, und spätestens, wenn er so groß ist wie eine Eiche, liegt Krieg in der Luft. Mit diesem zuerst niedlichen, dann monströsen Bonsai auf der Bühne des Nürnberger Staatstheaters ist also nicht zu spaßen, bei Menschenopfern sagt er nicht nein. Hört sich ungefähr so bizarr an wie der "Kleine Horrorladen", wo ja bekanntlich auch eine Topfpflanze außer Kontrolle gerät. Bei "Norma" liegt der Fall etwas anders, denn den Galliern waren ihre Bäume ja tatsächlich heilig, welcher Asterix-Leser wüsste das nicht.
Irgendwo zwischen den Blättern wohnten die altgermanischen Götter, und die Druiden schnitten mit ihren goldenen Sicheln bekanntlich Misteln aus dem Geäst, um daraus Zaubertränke zu brauen. Für den französischen Regisseur Stéphane Braunschweig ist der Bonsai also Sinnbild einer blutdürstenden Natur-Religion, die anfänglich unter einer Glashaube scheinbar klein und gezähmt scheint, sich dann aber doch rasend schnell auswächst, ein unheimlicher Schatten gleich zu Beginn lässt das schon ahnen. Ein treffender und ironischer Einfall von Braunschweig, der in dieser Nürnberger Koproduktion mit dem Pariser Théatre des Champs-Élysées sein eigener Bühnenbildner war.
Leider entwarf er ansonsten aber eine betont kühle, karge Kulisse: einen bunkerartigen Raum mit Betonwänden und -decke. Hier hausen die Gallier als abgerissene Proletarier, während die römischen Besatzer mit ihren pelzbesetzten Mänteln protzen. Das wirkte reichlich uninspiriert und eindimensional, zumal Oberpriesterin Norma, um die sich hier alles dreht, auch noch mit einem neoklassizistischen Schlafzimmer gesegnet ist, einschließlich blutroter geraffter Vorhänge wie aus "Quo Vadis" oder "Ben Hur". Franzosen mögen diese hochtrabende Monumental-Optik, steht sie doch nicht nur für deren ruhmreiche klassizistische Tragödientradition, sondern auch für ihre Liebe zum Pathos. Insofern ist verständlich, dass diese recht statische, bewegungsarme Inszenierung in Frankreich gefeiert wurde, während sie in Nürnberg eher befremdete, ja langweilte.
Eine faire Bewertung des Abends ist jedoch gar nicht möglich, denn kurz vor Premierenbeginn entschuldigte sich Tenor David Yim wegen plötzlicher Erkrankung. Die Vorstellung begann eine halbe Stunde verspätet, der türkische Tenor Ilker Arcayürek sprang für die Hauptrolle des Pollione ein und sang vom Notenständer aus, während sein Kollege stumm spielte. Das ging nur streckenweise gut. Kein Wunder, so ganz ohne Vorbereitung. Alle Augen und Ohren ruhten somit auf der armenischen Sopranistin Hrachuhí Bassénz, der Sängerin der Norma - die machte ihre Sache nicht nur gut, sondern außerordentlich. Bassénz hat eine vergleichsweise dunkle Stimmfarbe und keine sonderlich strahlenden Spitzentöne, verfügt jedoch über das wichtigste für diese riesenhafte Partie: Ausstrahlung, Charisma, Emotion. Eine Norma muss glaubwürdig leiden und rasen können, hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass. Das gelang Bassénz intensiv, ungekünstelt, stimmlich konditionsstark, kraft- und glutvoll.
Dirigent Marcus Bosch ist zur Zeit damit beschäftigt, Richard Wagners vierteiligen "Ring des Nibelungen" wieder aufzunehmen, vielleicht geriet ihm deshalb Bellinis kunstvolle "Norma" so wuchtig, so massiv, so deutsch. Wagner war ja ein großer Fan von seinem italienischen Vorgänger Bellini, dirigierte auch häufig dessen Werke, aber wohl kaum so laut und dröhnend. Womöglich war diese Premiere einfach von erhöhter Nervosität aller Beteiligten geprägt, es wäre nur allzu verständlich. Und eine so überzeugende Norma zu haben, ist für Nürnberg ja keine kleine Sache.
Musikalische Leitung: Marcus Bosch
Inszenierung und Bühne: Stéphane Braunschweig
Premiere: 13. Mai 2017
Weitere Infos und Termine unter staatstheater-nuernberg.de
Sendung: Allegro am 15. Mai 2017, 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK