Kein Nussknacker zu Weihnachten: Das Berliner Staatsballett hat Tschaikowskys Ballettklassiker aus dem Programm genommen. Die Inszenierung enthalte ethnische Stereotype und werde deshalb kritisch geprüft. Klingt nachvollziehbar. Der mediale Aufschrei ist allerdings groß. Von Cancel Culture und einem "Kotau vor dem Zeitgeist" ist die Rede. Zu Recht? BR-KLASSIK-Autor Tobias Stosiek kommentiert.
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Bei der WELT hat man ein Herz für Kinder. Wie schön, dass ihr Feuilletonredakteur vor allem an den Hauptstadtnachwuchs denkt, der dieses Jahr auf den Nussknacker verzichten muss. Schluchz. Und wer ist schuld? Na klar, die gemeine Cancel Culture. Und der Zeitgeist. Und die – Achtung! – "sozialen Niedertrachtsmedien". Nochmal schluchz. Man hat es schon schwer als sensibler Feuilletonist.
Dabei könnte man ja meinen, dass den allermeisten Berliner Kindern dieser Verzicht nicht so wahnsinnig schwerfallen wird. Um aber alle zu beruhigen, die sich schon das ganze Jahr auf ihr Weihnachtsballett gefreut haben: Andere Theater spielen ihn, den Nussknacker, auch in Berlin. Nur eben nicht so – in der Inszenierung von Marius Petipa.
Das ist nämlich das erste Missverständnis, das einige Kommentatorinnen und Kommentatoren bemühen, um sich selbst die Erlaubnis zu geben, Cancel Culture zu schreien: 'Alarm, jetzt darf man nicht mal mehr den Nussknacker spielen!' In Frage steht aber nicht der Nussknacker, also das Stück, sondern eine bestimmte Inszenierung desselben. Und zwar eine, die ungefähr 130 Jahre auf dem Buckel hat.
Christiane Theobald, Chefin des Staatsballetts, hat sich jedenfalls (übrigens ohne Zutun der "sozialen Niedertrachtsmedien") entschieden, den Nussknacker vorerst aus dem Programm zu nehmen, um solche Stellen zu überprüfen und zu überlegen, ob und wie sie sich in der Aufführung angemessen kontextualisieren lassen. Dabei betonte sie gegenüber der BILD, dass sie sich durchaus vorstellen könne, den Nussknacker wieder zu programmieren: "Ich schaffe es nur nicht in dieser Geschwindigkeit, das jetzt alles zu durchleuchten."
Und hier ist das zweite Missverständnis, das in Kommentaren gerne wiederholt wird: Nein, die Inszenierung verschwindet nicht einfach. Sie wird überprüft, inklusive der Option, sie wieder auf die Bühne zu bringen. Im Idealfall so, dass sie eine kritische Auseinandersetzung mit den Kolonialfantasien des 19. Jahrhunderts möglich macht – und diese nicht einfach wiederholt. Ob das klappt, ist offen. Der Versuch verdient jedenfalls Anerkennung.
Und er ist konsequent: Nachdem das Staatsballett letztes Jahr von Rassismusvorwürfen erschüttert worden war, hatte Theobald angekündigt, das Repertoire zu überprüfen, um "überholte und diskriminierende Aufführungsweisen aufzudecken und Traditionen in neuem Licht und mit anderem Bewusstsein zu sehen und neu zu bewerten." Nichts anderes geschieht derzeit weltweit an vielen Ballettinstitutionen, von London über Paris bis nach New York. Die gute Nachricht: Auch dort wird der Nussknacker weiterhin gespielt. Nur eben anders.
Dass sie dieses Jahr auf diesen (und nicht den) Nussknacker verzichten müssen, werden die Hauptstadtkinder bestimmt verkraften. Und sensible Feuilletonisten auch. Vielleicht.
Sendung: "Allegro" am 29. November 2021 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK