Seit über tausend Jahren gibt es die Tradition des Stundengebets. Sieben oder achtmal pro Tag versammeln sich die Mönche, um gemeinsam zu beten und Psalmen zu singen. Bei der Internationalen Orgelwoche Nürnberg haben am Wochenende zwei Gesangsensembles diesen klösterlichen Tagesablauf simuliert - von Mitternacht bis Mitternacht: das Berliner Ensemble Vox Nostra brachte gregorianische Choräle mit, die Tallis Scholars polyphone Musik der Renaissance und der Moderne. Wie fühlt es sich an, wenn man sich dem strengen Zeitplan des mönchischen Offiziums unterwirft? Thorsten Preuß hat es ausprobiert.
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Es ist Mitternacht. Zwischen kleinen Grüppchen von Nachtschwärmern hindurch bahne ich mir meinen Weg nach St. Sebald. Kirche statt Kneipe. Das hohe Gewölbe liegt ganz im Dunkeln. Nur vorne der bronzene Schrein mit den Gebeinen des Heiligen Sebald glänzt im Licht eines Scheinwerfers. "Herr, öffne meine Lippen", singt die Choralschola aus der Ferne, von ganz hinten. Vorn im Chorraum antworten die Tallis Scholars, besingen die "Quelle des lebenden Wassers" - und verströmen Wohlklang. Für mich ist das Wellness für die Ohren, für Dirigent Peter Phillips dagegen eine Herausforderung: "Wir sind ja keine professionellen Mönche", erläutert er, "wir leben in der modernen Welt und haben das Problem, dass wir jetzt 24 Stunden lang regelmäßig singen müssen, mit wenig Schlaf. Es gibt immer nur zwei bis drei Stunden zwischen den Gottesdiensten, und da sind wir nicht so in Übung wie die Mönche."
Ein faszinierendes Erlebnis – für einen kleinen Kreis. Wie ich haben sich heute früh gerade einmal 30 Leute aus dem Bett gequält. Warum? "Weil ich dieses Stimmung mitbekommen wollte - das Erwachen des Tages am Morgen", antwortet eine Stimme aus dem Publikum. Und eine andere: "Die Stille und die schöne Musik, das passt einfach hervorragend zusammen."
Das Faszinierende ist einfach dieses Universal-Menschliche.
Den ganzen Tag über kehre ich im Drei-Stunden-Takt in die Sebalduskirche zurück. Dazwischen erledige ich Hausarbeit und schleppe Kartons. "Ora et labora" sozusagen – bete und arbeite. Egal, ob draußen WM-Tore bejubelt werden – alle drei Stunden konzentriere mich wieder auf die uralten Psalmen. Mal singen Burkhard Wehner und sein Ensemble Vox Nostra einstimmig, mal in archaischen Quintparallelen. Wehner erklärt "Die Psalmtexte sind von einer Tiefe, dass es uns immer wieder packt".
Es gibt Momente an diesem Tag, da bin ich einfach nur müde. Und es gibt Gesänge, von Tomás Luis de Victoria oder von John Tavener, die sind so schön, dass es mir fast die Tränen in die Augen treibt. Und plötzlich ist es wieder Abend. Wieder ist es dunkel, wieder schimmert das Sebaldusgrab im Licht. Noch einmal singt die Schola: "In deine Hände lege ich meinen Geist". Ich fühle mich ruhig – und erstaunlicherweise: hellwach.
Sendung: "Leporello" am 18. Juni 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK