In Corona-Zeiten ist es nicht leicht die Mammutwerke der Klassischen Musik auf die Bühne zu bringen. Die neunte Symphonie von Ludwig van Beethoven zählt ohne Zweifel dazu. Trotzdem dirigierte es Riccardo Muti im Großen Festspielhaus bei den Salzburger Festspielen. Mit dabei waren die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und die Wiener Philharmoniker. Asmik Grigorian, Marianne Crebassa, Saimir Pirgu und Gerald Finley waren das Solistenquartett.
Es wirkt so, als hätte Riccardo Muti seinen Zugriff auf Beethovens Meisterwerk auf die aktuelle Situation angepasst: schicksalsschwanger klingt diese "Neunte". Muti befreit sie völlig von allen Schlacken, die solch rauf und runter gespielten Stücken oft anhaften. Hier geht es um Elementares.
Schon der schwebende Beginn ist kein suchendes Tasten, kein mystisches Klangspiel. Sondern unheilvolle Verkündigung, in die das Hauptthema mit aller Gewalt hereinbricht. Muti ist denkbar weit weg von einer historisch informierten Spielweise. Er sucht und nutzt die Klangschönheit und Klangfülle der Wiener Philharmoniker. Dabei bleibt er trennscharf, achtet auf die Balance zwischen Holzbläsern und Streichern, modelliert die Seitenstimmen heraus. Besonders in den Kontrabässen kommen im ersten Satz so Nuancen zum Vorschein, die sonst oft unterbelichtet bleiben.
In selten gehörter Wucht gestaltet Muti die Wiederkehr des Hauptthemas am Ende der Durchführung. Er walzt diese Stelle aus und macht sie so zum erschütternden, vorläufigen Kernpunkt der Symphonie. Setzt sie dem triumphierenden Lob der Freude am Schluss entgegen. Im Scherzo knüpft Muti an diese Lesart an. Die Streicherbewegungen sind hier keine federnden Impulse, sondern von markiger Intensität. Schlüssig also, dass das folgende Adagio ein Ruhepol ist, ein Moment des hoffnungsvollen Atemholens. Muti vermeidet hier alles Sentimentale. Er nimmt sich komplett zurück und beschränkt sich auf minimale Zeichen. So droht ihm aber stellenweise der Satz etwas zu zerfasern und die Energie abhanden zu kommen.
Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor ist, wie die Soli, erst nach dem zweiten Satz aufgetreten, um den Aerosolausstoß im Raum etwas geringer zu halten. Dass der Chor hier in voller Mannstärke schmettern kann, liegt am erprobten Corona-Testverfahren der Salzburger Festspiele. Ein jubelndes Publikum am Ende von Beethovens Neunter ist normal. Der Applaus wurde quasi mitkomponiert. Und doch ist es hier etwas anders. Das Publikum feiert die Mitwirkenden frenetisch. Wen wundert‘s! Wie lange ist es her, so ein groß besetztes Werk, noch dazu in dieser Qualität, live gehört zu haben?
BR-KLASSIK überträgt das Konzert der Wiener Philharmoniker unter Leitung von Riccardo Muti am Dienstag, den 1. September ab 20:05 Uhr im Radio. Mehr Informationen finden Sie hier. Weitere Sendetermine von Konzert- und Opernhighlights der diesjährigen Salzburger Festspiele finden Sie hier.
Sendung: "Leporello" am 14. August 2020 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK